Wider die Entmenschlichung

Zur Situation in Israel und Palästina.

Was sich seit Samstag in Israel abspielt ist nichts weniger als eine Zäsur. Die Bilder, die um die Welt gehen, zeugen von einer erschütternden, menschenverachtenden Brutalität. Der Angriff der Hamas hat unsägliches Leid über zahllose Familien und Freundeskreise gebracht und nicht nur Israel tief getroffen. Manche denken an die Verbrechen des IS im Nordirak, andere rufen sich die Verfolgungsgeschichte ihrer jüdischen Familie in Erinnerung.

Seit Samstag ist die Zahl der in Israel getöteten und ermordeten Menschen stetig nach oben korrigiert worden, mittlerweile auf über 700. Es ist davon auszugehen, dass diese Zahl weiter steigen wird. Um eine Vorstellung von der Dimension des Massakers zu bekommen, sollten wir uns vergegenwärtigen, dass laut der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem Palästinenser zwischen dem Beginn der Zweiten Intifada Ende September 2000 und September 2010 binnen zehn Jahren 1.083 Israelis töteten, davon 741 Zivilist:innen.

Für die palästinensische Zivilbevölkerung im Gazastreifen stellt die ebenfalls seit Samstag erfolgende israelische Bombardierung auf die Enklave einen weiteren und erneut fürchterlichen Einschnitt dar. Die Opferzahlen der Angriffe steigen stündlich. Die massive Vergeltung, die Israels Präsident Netanjahu angekündigt hat lässt einen hohen Blutzoll unter der Bevölkerung Gazas befürchten. Israels Verteidigungsminister kündigte die vollständige Blockade Gazas an: Kein Wasser, kein Strom, keine Lebensmittel sollen mehr hineingelangen. ...

Schon seit längerem erleben wir, wie sich nicht der Kampf um eine Region mit gleichen Rechten und Würde für alle dort lebenden Menschen durchsetzt, sondern wie sich religiöser Fundamentalismus, Ethnonationalismus und die Politik der Feindschaft vertiefen. Kaum ein Problem wurde politisch gelöst. Stattdessen sollte es immer und immer wieder die Politik der Bomben richten, insbesondere in Gaza. Doch kein Blutbad wird den Weg zur „Befreiung“ ebnen. Und wie schon bei früheren Operationen wird es illusorisch sein zu glauben, man könne Frieden oder Sicherheit militärisch erzwingen. ...

Jetzt, in diesen düsteren Stunden, sprechen wir mit unseren Partner:innen in der Region. Die einen trauern um die Opfer der Massaker der Hamas, andere liegen mit ihren Familien in Gaza unter ihrem Bett, weil sie bombardiert werden. Alle haben Angst um ihre Familien, um sich selbst und um ihre Freund:innen innerhalb und außerhalb der sie umgebenden Grenzen. Alle haben Angst vor dem, was noch passieren wird. Wir auch.

Angesichts der Schrecken auf beiden Seiten der Grünen Linie bleibt uns in diesem Moment nicht viel mehr, als unseren Partner:innen in Palästina und Israel beizustehen. Unsere Solidarität und Anteilnahme gilt in diesen Tagen mehr denn je der Zivilbevölkerung in Israel und Palästina, ihrem Wunsch und ihrem Recht auf ein Leben in Frieden und ohne Angst. Dies ist nicht die Zeit, ihr Leid auf die eine oder andere Weise zu instrumentalisieren.

medico international  9. Oktober 2023

siehe auch:

Israel/Palästina: Doppelter Ausnahmezustand
https://www.medico.de/blog/doppelter-ausnahmezustand-19227

Israel/Palästina: Unter Schock und unter Bomben
https://www.medico.de/unter-schock-und-unter-bomben-19225

Rojava: Krieg ohne Aufmerksamkeit
https://www.medico.de/blog/krieg-ohne-aufmerksamkeit-19223

aus: medico-Newsletter 13.10.2023