Zum Sanktionsmoratorium für Hartz IV-Beziehende

erstellt von Harald Thomé — zuletzt geändert 2022-05-22T18:23:02+01:00
Das von der Ampel geplante „Sanktionsmoratorium“ ist nun verabschiedet. Es enthält folgende Punkte: - Wirksamkeit für 1 Jahr, ab dem Monat des Inkrafttretens des Gesetzes, vermutlich Juli 2022 – Juli 2023 / - Aussetzen der Sanktionen nach §§ 31, § 31a, § 31b SGB II - also die 30 % Sanktionen - für ein Jahr / - Minderungen erst nach einem wiederholtem Meldeversäumnis, Bemessungszeitraum dafür ein Jahr. / - Minderung auf 10 % des Regelsatzes auch bei wiederholtem Meldeversäumnis begrenzt (§ 84 Abs. 3 SGB II n- N).

Den verabschiedeten Gesetzestext gibt es hier: https://t1p.de/b1har

Kommentar: Wenn man die Äußerungen aus dem Lager der Union, den Arbeitgeberverbänden,  ehemaligen BA-Chefs und sonstigen Freunden der Drangsalierung Erwerbsloser folgt, droht mit diesem Gesetz nichts weniger als die Gefahr des Untergangs des Abendlandes. Denn Sanktionen seien weiter nötig, um gegen „unkooperativer Leistungsbeziehende“ vorgehen zu können (so z.B. Ex-BA Chef Scheele). Vieles mehr kann dazu man dieser Tage in der Presse lesen.

Es ist erfreulich, dass die Ampel nun doch weitgehend ihre Ankündigung aus dem Koalitionsvertrag erfüllt. Die max. 10 % - Sanktionen bei Meldeversäumnissen sind überschaubar. Es ist zu hoffen, dass es zu einer vernünftigen Evaluierung zur Wirksamkeit dieses Moratoriums kommt. Allerdings macht eine solche Evaluierung nur Sinn, wenn Erwerbslose nicht nur nicht schikaniert werden, sondern gleichzeitig gefördert werden. Hier muss die Ampel Gas geben und die Mechanismen zur Förderung in Gang setzen.
Hierzu direkt ein Fall aus der Sozialberatung des Vereins Tacheles: es kann und darf nicht sein, dass Menschen, die beispielsweise dringend eine Brille brauchen, um wieder arbeiten zu können, diese mit abstrusen Ablehnungsbegründungen wie „die Anschaffung einer Brille sei im Regelsatz enthalten und es gäbe keinen Anspruch darauf“ versagt bekommen. Denn im vorliegenden Fall kann der Betroffene nicht arbeiten, wenn er nicht richtig sehen kann.

Genau das ist aber der Alltag für Hartz IV-Beziehende. Es gibt bisher oft eben keine notwendige Förderung, sondern lediglich unnötiges Schikanieren.   
Hier wurde jetzt ein überfälliger Schritt getan. Erst 2019 durch das BVerfG, nun von der Ampel. Die über die Jahrhunderte kultivierte reaktionäre Ideologie der Unterstellung des „faulen Arbeitslosen“ wird hoffentlich Geschichte.  Das ist nötig, mutig und eine historische Chance mit diesem reaktionären Gedankenbild endlich zu brechen.  

Tacheles hatte im Rahmen seines Beitrages als sachverständiger Dritter im  Sanktionsverfahren beim BVerfG eine Onlinebefragung zu den Auswirkungen und Folgen von den damaligen Sanktionen getätigt und den Menschen, die Sanktionen alltäglich erleben und Angst vor Sanktionen erlebt haben, die Möglichkeit gegeben, diese Erfahrungen unmittelbar  und direkt dem Gericht, welches über diese Dinge entschieden hat, vortragen zu können. Daran haben sich über 8000 Menschen mit insgesamt 600 Seiten beteiligt.  Wer diese Not, diese Angst und die Wünsche nach Förderung und nicht Drangsalierung lesen will, sollte sich dieses Dokument der Zeitgeschichte und neuer Form der Beteiligung der Betroffenen in Gerichtsverfahren anschauen:  https://t1p.de/mqxew

Auch wirklich lesenswert Tacheles-Stellungnahme im Sanktionsverfahren vor dem BVerfG in der deutlich rausgearbeitet wurde das jede Unterschreitung des sozialhilferechtlichen Existenzminimums einen Verstoß gegen die verfassungsrechtlich garantierte Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums sowie gegen den Grundsatz der Gewährung eines menschenwürdigen Daseins darstellt, der im Völkerrecht, im UN-Sozialpakt, in der UN-Behindertenkonvention und im Grundgesetz verankert ist (nähere Ausführungen unter: https://t1p.de/0v3m5 )

Wir haben eine einmalige bzw. historische Chance dieses unsägliche Drangsalierungssystem jetzt weitgehend abzuschaffen, nutzen wir sie!

Das nächste Brett was zu bohren ist, ist die Höhe der Regelleistungen. Diese müssen unverzüglichst deutlich angehoben werden.  

aus: Thomé Newsletter 20/2022 vom 22.05.2022