Zeitzeugenbericht zur Zerstörung der Synagoge an der Friedberger Anlage

erstellt von Initiative 9. November — zuletzt geändert 2021-11-09T16:28:38+01:00
Dr. Ernst Gerhardt, am 10. September 1921 in Frankfurt geboren, war am 9. November 1938 siebzehn Jahre alt.

„1938, am 9. November, das weiß ich noch genau: Ich war Angestellter bei der Firma Braun und da kam unser Direktor, der kam aus der Stadt zurück. Wir hatten unseren Betrieb im Gallusviertel. Er hat gesagt, in der Stadt brennen alle Synagogen. Und das war natürlich für mich ein Anlass. Als ich dann Betriebsschluss hatte, um fünf Uhr nachmittags, da habe ich mich aufs Fahrrad gesetzt, und bin in die Stadt gefahren. Ich bin dann an die Obermainanlage, da war die große Synagoge an der Friedberger Anlage und die hat gebrannt. Da war auch die Feuerwehr. Und ich steh davor und die Feuerwehr hat nur die Nachbarhäuser bespritzt und nicht die Synagoge. Und da habe ich noch zu den Leuten, die da rumstanden, gesagt, die löschen ja überhaupt nicht. Mir war es nicht zum Lachen zumute und die Leute waren alle schweigsam. Es steht manchmal in der Zeitung, die Leute hätten gejohlt. Ich habe das nicht erlebt. Ich habe schweigende, sehr, sehr nachdenkliche Leute gesehen um mich herum. Da habe ich mich aufs Fahrrad gesetzt und bin nach Hause gefahren und hab es meiner Mutter erzählt. Und da sind wir uns um den Hals gefallen und haben laut geheult. Das weiß ich noch so. Danach war allerdings dann Schweigen. In der Presse war Schweigen, auch in der öffentlichen Meinungsbildung. Ich habe erwartet, dass in der Kirche am Sonntag darauf irgendwas gesagt wird, ein Gebet. Auch der Pfarrer sagte nichts. Nichts, alles war still. Die hatten natürlich Angst. Mut wäre da angebracht gewesen. Aber es war natürlich das Gespräch in der Runde. Ich war ein aktiver Mann in der katholischen Jugend und wir waren ja von den Nazis verfolgt und verboten und wir sind sonntags immer in der Kirche gewesen, und da haben wir uns auf dieser Ebene dann getroffen."

Auszug aus dem Interview mit Dr. Ernst Gerhardt (Iris Bergmiller-Fellmeth und Ulla Schickling)

aus: Newsletter #11, 9.11.2021