Sechs Monate Fall von Kabul: Zehn-Punkte-Plan vorgestellt

erstellt von PRO ASYL — zuletzt geändert 2022-02-15T14:37:50+02:00
PRO ASYL, Kabul Luftbrücke und das Patenschaftsnetzwerk Afghanistan stellen Zehn-Punkte-Plan vor zur Aufnahme und Evakuierung Verfolgter und appellieren: „Vergesst Afghanistan nicht! Handelt jetzt!"

Vor sechs Monaten sind die Taliban in Afghanistan an die Macht gekommen. Zeit für eine bittere Bilanz: Das Leid der Menschen ist weitgehend aus den Schlagzeilen verschwunden. Massive Verletzungen der Menschenrechte durch die Taliban sind dokumentiert. Viele Zehntausende Menschen, die einen Bezug zu Deutschland haben oder für eine liberale Demokratie eingetreten sind, fürchten um ihr Leben, die Situation in Afghanistan spitzt sich täglich weiter zu. Die versprochene Aufnahme von Verfolgten stockt. Immer noch harren Zehntausende ohne Aufnahmezusage aus oder sitzen in Afghanistan oder Nachbarstaaten fest. Die alte Bundesregierung hat sie kläglich im Stich gelassen. Die Umsetzung der von neuer Regierung versprochenen Ausweitung der Aufnahme ist noch nicht in Sicht.

PRO ASYL, Kabul Luftbrücke und das Patenschaftsnetzwerk afghanische Ortskräfte haben deshalb gemeinsam den Zehn-Punkte-Plan „Vergesst Afghanistan nicht, handelt jetzt" entwickelt. Die zehn Vorschläge müssen und können schnell umgesetzt werden. Dazu gehört, bei Menschen, denen die Aufnahme zugesagt wurde, auf bürokratische Visaverfahren zu verzichten und erst bei Einreise ins Staatsgebiet an deutschen Flughäfen ein Visum zu erteilen (Visa on Arrival).

„Die Bundesregierung muss zu ihrer Verantwortung stehen und Verfolgte retten. Dies gilt ganz besonders für Afghan*innen, die für deutsche Ministerien und Institutionen tätig waren und solche, die sich als Journalist*innen, Anwält*innen oder Menschenrechtsaktivist*innen für Demokratie und Menschenrechte stark gemacht haben ob mit oder ohne Bezug zu Deutschland", fordern die Organisationen. In ihrem Zehn-Punkte Plan zeigen die Organisationen Direktflüge aus Kabul nach Deutschland mit Visaerteilung auf den deutschen Flughäfen als Lösung. 

Auch der zum Erliegen gekommene Familiennachzug zu in Deutschland lebenden Flüchtlingen kann und muss durch Visa on Arrival beschleunigt werden. „Mehr als 6000 Anträge auf Familienzusammenführung wurden oft jahrelang nicht einmal gestellt, geschweige denn bearbeitet. Das ist unerträglich, dies kann und muss sofort durch Direktflüge nach Deutschland gelöst werden", fordert PRO ASYL Geschäftsführer Burkhardt.

„Deutschland muss jetzt ein Bundesaufnahmeprogramm beschließen, um die Evakuierung von gefährdeten Personen aus Afghanistan zu ermöglichen. Allein die Organisation Kabul Luftbrücke steht derzeit mit über 35.000 Menschen in Afghanistan in Kontakt, die dringend evakuiert werden müssen. Das versprochene Bundesaufnahmeprogram muss diesen Bedarf abdecken", fordert Tareq Alaows für die Organisation Kabul Luftbrücke.  Hinzu kommen viele Tausend Menschen, die sich bei anderen Organisationen oder direkt beim Auswärtigen Amt gemeldet haben. PRO ASYL und Kabul Luftbücke fordern das Auswärtige Amt auf, offen zu legen, wie viele Emails mit Anträgen auf Schutz seit dem 15.8.2021 eingegangen sind und wie viele noch in der Bearbeitung sind. 

Die Organisationen warnen deshalb gemeinsam: „Ein engherziges beispielsweise auf eine vierstellige oder niedrige fünfstellige Zahl begrenztes Programm ist absolut nicht ausreichend. Dem Auswärtigen Amt wurden im vergangenen Sommer viele Zehntausend gefährdete Personen gemeldet. Die Anträge der Betroffenen auf Schutz wurden vielfach ministeriell nicht bearbeitet. Nur ein Bruchteil wurde für die sogenannte Menschenrechtsliste berücksichtigt".

PRO ASYL Geschäftsführer Burkhardt appellierte an das AA und das Bundesinnenministerium, sofort zu handeln und endlich die vorhandenen Möglichkeiten unabhängig von einem Bundesprogramm sofort zu nutzen. „Es darf keine weitere Zeit mit Verhandlungen zwischen den beteiligten Ministerien, verloren werden. Die alte Regierung wollte nicht, die neue muss parallel zur Entwicklung eines Aufnahmeprogramms die bestehenden Instrumente sofort großzügig und schnell nutzen. Sonst sind die tot, die mit einem Bundesaufnahmeprogramm gerettet werden sollen. Dazu gehört Fall für Fall endlich zügig zu bearbeiten und positiv zu bescheiden."

In ihrem Zehn-Punkte Plan fordern die Organisationen die sofortige Reform des Ortskräfteverfahrens: Ortskräfte die bisher aufgrund von bürokratischen Hürden – zum Beispiel vor 2013 beschäftigt oder angeblich nicht zeitgerecht eingereichter Gefährdungsanzeigen - ausgeschlossen sind, müssen endlich unter Schutz gestellt werden. Auch Afghan*innen, die als Subunternehmer*innen für deutsche Organisationen tätig waren oder in Projekten gearbeitet haben, die von deutschen Institutionen und Organisationen finanziert wurden, müssen als Ortskräfte anerkannt werden und eine Aufnahmezusage erhalten.

Besonders wichtig ist den Organisationen außerdem die Wiederöffnung der Menschenrechtsliste des Auswärtigen Amts. „Egal ob Richter, Politiker, Frauenrechtsaktivistin oder Sportlerin: In Afghanistan sind Tausende von Vertretern und Vertreterinnen eines liberalen Afghanistans in Gefahr – mit und ohne Bezug zu Deutschland. Wir dürfen sie nicht im Stich lassen" warnt Burkhardt.  "Wir dürfen die Menschen, die für ein liberales Afghanistan tagtäglich eingestanden sind, nicht vergessen. Alle, die nicht dem Weltbild der Taliban entsprechen, müssen um ihr Leben fürchten. Sie müssen gerettet werden, egal ob sie einen direkten Bezug zu Deutschland haben oder nicht", fordert Alaows.

Presseerklärung 14. Februar 2022