Prostituierte zum Sozialpsychiatrischen Dienst?

erstellt von Dona Carmen e.V. — zuletzt geändert 2019-02-14T16:50:07+01:00
Marburg mauert, Offenbach prüft

Ende Januar 2019 hat Doña Carmen e.V. öffentlich darauf hingewiesen und kritisiert, dass in Marburg und Offenbach die seit Juli 2017 geltende gesundheitliche Zwangsberatung von Sexarbeiter/innen nach § 10 Prostituiertenschutzgesetz unter die Zuständigkeit des Sozialpsychiatrischen Dienst der jeweiligen Gesundheitsbehörden fällt.

Während die Stadt Offenbach diesen Sachverhalt auf der städtischen Website offen benennt, praktiziert die Gesundheitsbehörde des Landkreises Marburg-Biedenkopf dies klammheimlich. Nicht auf der Website oder in den Informationsmaterialien, wohl aber in der Korrespondenz mit den Betroffenen und ihrem Umfeld wird die problematische Zuständigkeit des Sozialpsychiatrischen Dienstes offensichtlich.

Doña Carmen e.V. hat gegen diese behördlichen Praktiken einer institutionellen Diskriminierung von Sexarbeiter/innen protestiert und fordert ihre umgehende Einstellung. Eine Zuordnung von Zwangsgesundheitsberatung und Sozialpsychiatrie darf es nicht geben. Warum?

Erstens:

Weil die sozialpsychiatrischen Abteilungen der Gesundheitsbehörden laut Gesetz (HGöGD § 7) für „Menschen mit psychischen Krankheiten“ zuständig sind und sich folglich nicht als Anlaufstelle für Angehörige einer gesamten Berufsgruppe eignen, die zu den Gesundheitsberatungen gesetzlich zwangsverpflichtet wurden. Für die Zuständigkeit des Sozialpsychiatrischen Dienstes gibt es in diesem Fall keine sachlich begründete Rechtfertigung.

Zweitens:

Weil bereits im Nationalsozialismus Prostituierte mittels Pathologisierung und Psychiatrisierung ausgegrenzt, kriminalisiert und als „Asoziale“ abgestempelt zu Zwangsarbeiten herangezogen wurden. (Beispielhaft sei hier nur auf die Praxis in Hamburg unter dem Nationalsozialismus verwiesen, wo allein von März bis Dezember 1933 insgesamt 1.527 „Inschutzhaftnahmen“ von Prostituierten erfolgten. Dazu schrieb die Hamburger Fürsorgebehörde am 8.11.1933: „Wichtig ist, das während des Anstaltsaufenthaltes die Möglichkeit der psychiatrischen Beobachtung gegeben ist, um ausgesprochen asoziale Elemente nicht nur vorübergehend festzuhalten, sondern in Dauerbewahrung überleiten zu können.“ (zit. nach: Ebbinghaus u.a., Heilen und Vernichten im Mustergau Hamburg, S. 89)

Vor diesem geschichtlichen Hintergrund verbieten sich Praktiken einer Regel-Zuweisung von Angehörigen der Berufsgruppe Sexarbeiter/innen an den Sozialpsychiatrischen Dienst.

Der Landkreis Marburg-Biedenkopf und die Stadt Offenbach haben auf die Kritik von Doña Carmen sehr unterschiedlich reagiert.

Offenbachs zuständige Sozialdezernentin Sabine Groß (Bündnis 90 / Die Grünen) hat am 1. Febr. 2019 umgehend geantwortet. Sie hat sich für das Schreiben von Doña Carmen bedankt und erklärt, eine Prüfung der Angelegenheit zu veranlassen, über deren Ergebnisse sie zeitnah informieren will.

Doña Carmen begrüßt diese Prüfung und hofft, dass die von uns vorgetragenen Argumente gewürdigt und die Zuständigkeiten umgehend geändert werden.

Anders in Marburg. Dort hat die zuständige Landrätin Fründt (SPD) gegenüber dem Politikmagazin zwd die von ihr zu verantwortende Praxis gerechtfertigt. Schließlich könne man aus den Infomaterialien der Behörde und der Website des Landkreises Marburg-Biedenkopf „keinen Zusammenhang zwischen der Beratung und dem Namen des zuständigen Fachdienstes“ herstellen. (http://www.zwd.info/oeffentliche-kritik-an-umgang-mit-sexarbeiter*innen-in-marburg.html)

Während die Zuständigkeit des Sozialpsychiatrischen Dienstes von Fründt gegenüber Doña Carmen bislang geleugnet wurde (siehe ihr Schreiben unten vom 10.04.2018), argumentiert sie nunmehr, dass man ja öffentlich von der Diskriminierung nichts mitbekommen würde. Zudem würde die Beratung dort von den Betroffenen als „wertschätzend empfunden“.

Doña Carmen kann diese Reaktion von Landrätin Fründt (SPD) nicht auf sich beruhen lassen.

Es ist völlig unverständlich, warum die Zuständigkeit des Sozialpsychiatrischen Dienstes für die gesundheitliche Zwangsberatung von Sexarbeiter/innen nicht umgehend geändert werden kann, zumal – wie Fründt einräumt – bis jetzt binnen anderthalb Jahren doch lediglich 40 Sexarbeiter/innen zu ihrer Behörde gekommen seien. Eine solche Größenordnung müsste doch auch jede andere Abteilung dieser Gesundheitsbehörde problemlos stemmen können.
Wer dennoch an der jetzigen Behördenpraxis festhält, setzt sich dem Vorwurf aus, der Diskriminierung von Sexarbeiter/innen aufgrund der Zugehörigkeit zu einer vielfach wenig angesehenen Berufsgruppe Vorschub zu leisten.

Wir wissen nicht, ob dabei Vorurteile und Stereotype handlungsleitend sind, wissen aber sehr wohl, dass institutionelle Diskriminierung, wenn sie nur lang genug praktiziert wird, durchaus geeignet ist, Stereotype und Vorurteile – in diesem Fall gegenüber Sexarbeiter/innen – zu befestigen und salonfähig zu machen.

Dass ein Ausbleiben von spontanen Unmutsbekundungen und Protest kein Indiz für das Nicht-Vorhandensein struktureller institutioneller Diskriminierung ist, sollte aus der Geschichte der Juden, der Frauen und der Migranten/innen in Deutschland und anderswo hinreichend bekannt sein.

Ein Festhalten an diskriminierenden behördlichen Praktiken und ein billigendes Inkaufnehmen einer allgemeinen Akzeptanz von sozialer Ausgrenzung und Entwürdigung sollte in jedem Fall unterbleiben.

In diesem Sinne hat sich Doña Carmen e. V. mit einem Schreiben an alle Mitglieder des Marburger Stadtparlaments gewandt. Es muss möglich sein, so Doña Carmen in diesem Schreiben, dass nicht jeder Missstand automatisch zu einem Konflikt werde. Die Marburger Stadtverordneten – ganz gleich welcher Fraktion sie angehören – sind daher ausgefordert, ihren Einfluss geltend zu machen und dazu beizutragen, dass das von Doña Carmen benannte und wahrlich lösbare Problem in Zukunft keines mehr ist.

Alle Schreiben sind auf unserer Website unter diesem Link zu finden:

https://www.donacarmen.de/prostituierte-zum-sozialpsychiatrischen-dienst/


www.donacarmen.de
Dona Carmen e.V., Pressemitteilung, 12.2.2019