PRO ASYL kritisiert engherzig gefasste Aufnahmezusagen Deutschlands

erstellt von PRO ASYL — zuletzt geändert 2021-08-28T10:08:08+02:00
Die Menschenrechtsorganisation kritisiert, der Begriff der Ortskraft ist zu eng gefasst, und bietet einen Überblick über weitere Gruppen schutzbedürftiger Afghan*innen, die jetzt schnell eine Schutzzusage brauchen.

PRO ASYL kritisiert die heute vom Auswärtigen Amt veröffentlichten Hinweise für deutsche Staatsangehörige und weitere Schutzbedürftige aus Afghanistan als völlig unzureichend. Denn sie legen nahe, dass nur diejenigen Gefährdeten aus der afghanischen Zivilgesellschaft auf Schutz hoffen dürfen, die bis jetzt von der Bundesregierung als besonders gefährdet identifiziert und gelistet worden sind. Doch längst nicht alle hatten die Chance dazu. Tausende Gefährdete sind zurückgelassen worden.

„Viele Menschen können gar nicht auf eine Aufnahmezusage hoffen, weil der Kriterienkatalog der Bundesregierung viel zu eng gefasst ist", kritisiert Geschäftsführer Günter Burkhardt. PRO ASYL fordert, auch weiteren gefährdeten Personen die Einreise nach Deutschland zu ermöglichen. Überhaupt nicht im Blick ist, dass Familienangehörige von Menschen, die in Deutschland als Flüchtlinge anerkannt wurden, in großer Gefahr sind. Auch sie brauchend nun dringend Aufnahmezusagen, ebenso wie folgende Personengruppen: Journalist*innen, Menschenrechtler*innen, Afghan*innen, die bei Subunternehmen angestellt, aber de facto für deutsche Einrichtungen tätig waren, und solche, die bei der GIZ oder anderen deutschen Entwicklungsorganisationen gearbeitet haben.

PRO ASYL fordert vom Bundesinnenministerium, den Länderinnenminister*innen und der Bundesregierung:

• Die Fortsetzung der Evakuierung aus Nachbarstaaten
• Schriftliche Aufnahmezusagen für gefährdete Personen, die in Afghanistan festsitzen
• Humanitäre Visa für Ortskräfte und andere gefährdete Personen nach § 22 Satz 2 AufenthG
• Schnellen und unbürokratischen Familiennachzug zu in Deutschland Schutzberechtigten
• Ein Bundesaufnahmeprogramm für gefährdete Afghan*innen (auch aus Anrainerstaaten) nach § 23 Abs. 2 AufenthG und Zustimmung für Landeaufnahmeprogramme

Täglich gehen bei PRO ASYL verzweifelte Hilferufe von gefährdeten Afghan*innen ein, die aus dem Raster fallen. Hier eine Übersicht, um welche Personengruppen es sich handelt, mit beispielhaften Fällen.

Zurückgelassen: Familienangehörige, die nicht zur „Kernfamilie" gehören

Najibullah* ist eine ehemalige Ortskraft und lebt seit vielen Jahren in Deutschland. Einem seiner Söhne wurde der Familiennachzug vor Jahren verweigert, da er schon volljährig war. Er wurde daraufhin von den Taliban als Racheaktion entführt und gefoltert, als „Ersatz" für seinen in Deutschland lebendem Vater. Diesem wurden Fotos und Videos der Gräueltaten zugeschickt. Die Bundesregierung hat es mehrfach abgelehnt, die Familie des Gefolterten einreisen zu lassen. Die Begründung: Erwachsene Kinder zählen nicht zur „Kernfamilie" und sind daher vom Familiennachzug ausgenommen. 

So geht es auch der 23-Jährigen Sahar*: Im Juli wurde ihre Familie im Rahmen des Ortskräfteverfahrens nach Deutschland ausgeflogen, da ihr Vater für die Bundeswehr gearbeitet hatte. Ihm, seiner Frau und drei minderjährigen Kindern wurde die Einreise gestattet – nicht aber der 23-jährigen, ledigen Sahar. Sie gehört nicht zur „Kernfamilie". Nun lebt Sahar als junge, unverheiratete Frau ohne Verwandte völlig auf sich gestellt in Afghanistan. Ihr Vater wurde, nachdem er vom Sieg der Taliban gehört hatte, infolge eines Zusammenbruchs ins Krankenhaus eingeliefert.

„Wir wenden uns in tiefer Verzweiflung an Euch", beginnt eine Mail von Hafis*. Er war als Ortskraft für die Bundeswehr in Afghanistan tätig und lebt seit 2015 in Deutschland. Ein Bruder von ihm hat ebenfalls für die Bundeswehr gearbeitet, er, seine Frau und deren Kinder wären visaberechtigt. Ein weiterer Bruder war für die GIZ tätig. Die ganze Familie lebt zusammen in einem Haus im Norden Afghanistans und wird von den Taliban mit dem Tod bedroht. Es gab bereits drei Anschläge, die sie überlebt haben. „Wir können uns nicht darauf verlassen, dass der vierte Anschlag auch misslingen wird", schreibt uns Hafis. „Wenn mein visaberechtigter Bruder das Land verlässt, lässt er unsere Mutter und unsere Schwestern schutzlos zurück. Wenn er geht, wird es für alle anderen noch schlimmer. Diese Familie wird in Afghanistan sterben", lautet die verzweifelte Nachricht von Hafis.

Zurückgelassen: Besonders Schutzbedürftige, darunter viele exponierte Frauen

Maryam* war in wichtiger Position im Justizwesen beschäftigt und hat Verfahren gegen die Taliban geführt. Die Demokratisierung von Afghanistan hat sie aus voller Überzeugung unterstützt. Vor drei Wochen verschafften sich Taliban Zutritt zu ihrem Wohnhaus; ihr Ehemann konnte ihr Versteck verbergen. Die Mutter kleiner Kinder floh sofort und wechselt nun jede Nacht zu einer anderen Unterkunft, da die Taliban ununterbrochen alle Häuser nach Kollaborateuren durchsuchen. Ihre Schwester und ihr Schwager leben in Deutschland, zu ihnen könnte sie ziehen. Zwar hat sie nach Wochen des Bangens und Zitterns eine Aufnahmezusage bekommen, jedoch erst am Abend bevor die Luftbrücke endete – also zu spät.

Zurückgelassen: Subunternehmer, die keinen deutschen Arbeitsvertrag vorweisen können

Hochgradig gefährdet sind auch Afghanen wie Adil*. Er arbeitete neun Jahre lang für ein Sicherheitsunternehmen und bewachte eine wichtige deutsche Einrichtung. Als Wachmann war er auf dem Präsentierteller, jeder kennt sein Gesicht. Doch weil er nicht direkt von der deutschen Einrichtung angestellt worden war, sondern über ein Subunternehmen, zählt er für die Bundesregierung nicht als Ortskraft. 

Zurückgelassen: Mitarbeiter*innen der Entwicklungszusammenarbeit

PRO ASYL ist der Fall eines Mannes bekannt, der 11 Jahre lang in wichtiger Funktion bei der GIZ angestellt war. Hamid* ist um die Fünfzig, seine Frau sitzt im Rollstuhl – eine Flucht ist daher schwieriger als ohnehin schon und ohne Hilfe von außen kaum möglich. Eine Tochter des Paares lebt mit ihren Kindern in Deutschland, sie zittert und bangt um ihre Eltern.

Ähnlich verhält es sich mit Mohamed*, der ebenfalls in Deutschland lebt und sich mit einem Hilferuf an die Bundesregierung und an PRO ASYL gewandt hat. Seine Schwester ist mit ihrer Familie in akuter Gefahr: ihr Mann war zunächst in der deutschen Entwicklungshilfe tätig und arbeitete anschließend als Kommandant in einem Gefängnis, in dem Taliban inhaftiert waren. Er konnte untertauchen, doch die Taliban durchsuchten das Haus der Familie bereits drei Mal und drohen, die kleine Tochter mitzunehmen und zu verheiraten, wenn der Vater sich nicht stellt.  Ein Familienmitglied ist bereits geköpft worden.

Zurückgelassen: Journalist*innen, Menschenrechtler, Demokratie-Aktivisten

Omid* ist Journalist und war sowohl für die Bundeswehr direkt als auch für ein Medienzentrum, das die Bevölkerung über den NATO-Einsatz aufklären sollte, als Kameramann, Cutter sowie Redakteur tätig. Von Januar 2015 bis zum Abzug der Truppen Ende Juni 2021 half er dabei mit, seinen Landsleuten den Einsatz zu vermitteln und dafür zu werben. Zudem steht er in der Öffentlichkeit - ist aktiv bei Twitter, positionierte sich in seinen Videobeiträgen gegen die Taliban und gab deutschen Medien Interviews. In seiner Heimat fühlte er sich aufgrund der näherrückenden Extremisten nicht mehr sicher und floh nach Kabul. Seine Frau, seine Kinder und seine Eltern ließ er zurück – in der Hoffnung, ihnen werde nichts geschehen, wenn er untertaucht.  

*Alle Namen wurden aus Schutzgründen geändert

Presseerklärung 27. August 2021