Offener Brief an den Frankfurter Oberbürgermeister Mike Josef
zur Situation im Bahnhofsviertel und zur neuen Unternehmensinitiative BHV
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Josef,
Doña Carmen e.V., Verein für die sozialen und politischen Rechte von Prostituierten, begrüßt den couragierten Schritt der neuen Unternehmensinitiative BHV (Bahnhofsviertel), in der sich namhafte, in Frankfurt ansässige Firmen zusammengetan und bereitgefunden haben, soziale Projekte im Frankfurter Bahnhofsviertel zu unterstützen, um so die Lage in diesem Quartier nachhaltig zu verbessern.
Ebenso begrüßen wir die getroffene Auswahl der mit großzügigen finanziellen Zuwendungen bedachten Vereine und Organisationen, die sich der überaus wichtigen sozialen Unterstützung drogenkranker Menschen widmen. Gerade hierbei handelt es sich seit langem um ein zentrales Problem des Viertels, bei dem jede erdenkliche Hilfe notwendig und daher wünschenswert ist.
Der Presseberichterstattung zum Start der Unternehmensinitiative BHV war zu entnehmen, dass sie in Zusammenarbeit mit der Stadt Frankfurt auf den Weg gebracht wurde, um damit die Anstrengungen der Kommune zu unterstützen. Das ist eine gute Sache.
Gleichzeitig registrieren wir mit einiger Verwunderung und Irritation, dass eine große Frankfurter Zeitung in ihrem Rhein-Main-Teil den Start der neuen Initiative von Unternehmen und Institutionen zum Anlass nimmt, um in althergebrachter Art und Weise Prostitution als Schandfleck des Viertels zu brandmarken (FAZ, 18.10.2024). Mit Verweis auf angeblich „dramatische" Veränderungen in den letzten acht Jahren wird die Inanspruchnahme sexueller Dienstleistungen in hiesigen Laufhäusern / Bordellen zu einer „bedrückenden" Angelegenheit erklärt.
Doña Carmen e.V. kritisiert ganz entschieden, dass dieser durchsichtige und durch nichts belegte Versuch einer erneuten Stimmungsmache gegen Sexarbeit im Viertel die neue Unternehmerinitiative mit alten Grabenkämpfen belastet. In völlig überflüssiger Weise wird die stigmatisierende Ausgrenzung einer rechtlich anerkannten Berufstätigkeit betrieben, werden unterschiedliche Problemlagen gegeneinander ausgespielt.
Diese rückwärtsgewandte, vorurteilsbeladene und in keiner Weise zielführende Bewertung dann auch noch als „richtigen Kurs im Bahnhofsviertel" hinzustellen, mag zwar das moralische Wohlbefinden von Leuten in der gesellschaftlichen Komfortzone bedienen, wird aber den im Viertel tätigen Sexarbeiter*innen in keiner Weise gerecht und trägt nicht das Geringste dazu bei, auch nur irgendein Problem zu lösen.
Wir können uns nicht vorstellen, dass die Stadt und die Öffentlichkeit in Frankfurt Zustände herbeisehnen wie zu Zeiten des Lockdowns in der Corona-Pandemie, wo Prostitution auf den Straßen des Viertels angebahnt, in den umliegenden Hostels und Hotels praktiziert oder in Privatwohnungen verlagert wurde, wo Sexarbeit – im Unterschied zu den Laufhäusern – unter hygienisch fragwürdigen Bedingungen stattfand.
Doña Carmen e.V. betreibt seit mehr als 25 Jahren die einzige Beratungsstelle für Prostituierte unmittelbar vor Ort im Bahnhofsviertel. Wir wissen, wovon wir reden.
Wir haben in all dieser Zeit – mit Ausnahme eines vor 20 Jahren gestifteten Computers – von der Stadt Frankfurt keinen einzigen Cent Unterstützung erhalten. Das hat uns nicht davon abgehalten, durch ehrenamtliche Arbeit Sexarbeiter*innen in der Wahrung ihrer Rechte und Belange zu unterstützen: Allein in der Corona-Zeit sind knapp 200 Frauen von uns beraten worden, von denen die Hälfte mit unserer Unterstützung in den ALG-II-Bezug kam. Sexarbeiter*innen haben bei Doña Carmen e.V. ihre Zustelladressen, die jederzeit Behördenkontakte ermöglichen. Wir haben Stadtverordneten unsere gut begründete Forderung nach einem Boardinghaus für Prostituierte vorgetragen, die als migrantische Wanderarbeiter*innen immer wieder mit dem Problem eines kurzfristigen, bezahlbaren Wohnraums zu kämpfen haben. Eine ehrenamtliche Ärztin bietet in den Räumlichkeiten unseres Vereins bei Bedarf medizinische Beratung an.
Vor diesem Hintergrund erwarten wir von einem Oberbürgermeister der Stadt Frankfurt – also von Ihnen, Herr Josef –, dass die neue Unternehmerinitiative für das Frankfurter Bahnhofsviertel nicht in einem Klima startet, in dem Problemlagen der einen gegen Problemlagen anderer Menschen im Viertel ausgespielt werden.
Mit abschätzigen Stellungnahmen gegenüber den Laufhäusern im Viertel, gegen die dort tätigen Sexarbeiter*innen und ihre Kundschaft tut man der Stadt Frankfurt und den Menschen im Viertel keinen Gefallen. Damit entwertet man auch die Arbeit von Organisationen wie Doña Carmen e.V.
Daher möchten wir Sie bitten, Herr Oberbürgermeister Josef, Prozesse der Mittelvergabe seitens der Unternehmerinitiative Bahnhofsviertel im Geiste der Vielfalt, der Weltoffenheit und der Akzeptanz zu moderieren, die das Frankfurter Bahnhofsviertel seit jeher ausgezeichnet haben. Das Bedürfnis einiger weniger nach fortgesetzter Ausgrenzung von Sexarbeit darf nicht zur Richtschnur werden, wenn es um die finanzielle Unterstützung sozialer Projekte im Viertel geht.
Mit freundlichen Grüßen
Juanita Henning
(Sprecherin Doña Carmen e.V.)
PS.
Wir bitten um Weiterleitung dieser Stellungnahme an die Mitglieder der Unternehmerinitiative Bahnhofsviertel.
18.10.2024