„Offener Brief" an den CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz
Stellungnahme zu den Aussagen zum Thema ‚Prostitution' im Koalitionsvertrag von CDU/CSU/SPD
Koalitionsvertrag von CDU/CSU/SPD zum Thema ‚Prostitution'
Sehr geehrter Herr Merz,
Sie wollen gestützt auf eine Koalition von CDU/CSU und SPD Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland werden. Das ist ambitioniert. Als Verein für die sozialen und politischen Rechte von Prostituierten hat sich Doña Carmen e.V. mit dem nun veröffentlichten Koalitionsvertrag der von Ihnen geführten Parteienkoalition befasst.
Wir begrüßen es sehr, dass Sie am Plan eines „Sexkaufverbots" für Deutschland nicht länger festgehalten haben. Er wäre ohnehin nur zum Schaden für die Betroffenen und zum Scheitern verurteilt gewesen. Wir halten den Verzicht auf ein „Sexkaufverbot" daher für einen ausgesprochen vernünftigen Schritt, auch im Hinblick auf die Wahrung der grundgesetzlich verbrieften Rechte von Sexarbeiter*innen und ihrer Kunden.
Mit großer Verwunderung hingegen haben wir die folgende Passage in Ihrem Koalitionsvertrag zur Kenntnis nehmen müssen, wo es auf S. 103 heißt:
„Prostituiertenschutzgesetz
Deutschland ist zu einer Drehscheibe beim Menschenhandel geworden. Die Opfer sind fast ausnahmslos Frauen. Im Lichte der Evaluationsergebnisse zum Prostituiertenschutzgesetz werden wir mit Unterstützung einer unabhängigen Experten-Kommission bei Bedarf nachbessern."
Es ist für uns in keiner Weise nachvollziehbar, wie der von Ihnen zu verantwortende Koalitionsvertrag zu der Aussage kommen kann, Deutschland sei „zu einer Drehscheibe beim Menschenhandel geworden". Nach unseren Informationen – und dabei stützen wir uns auf die Publikationen des BKA und des Statistischen Bundesamts – kann von einer „Drehscheibe" in diesem Kontext beim besten Willen keine Rede sein. Nach den von den staatlichen Stellen veröffentlichten Publikationen stellt sich die gegenwärtige Lage in Bezug auf „Menschenhandel" in die Prostitution vielmehr wie folgt dar:
- ZENIT ÜBERSCHRITTEN: Bereits vor 27 Jahren (1997) überschritt die Strafverfolgung von „Menschenhandel" in die Prostitution mit 1.425 mutmaßlich Geschädigten („Opfern") ihren Zenit. Von da an ging's bergab.
- STÄNDIGE GESETZESÄNDERUNGEN: Die Gesetzeslage zu „Menschenhandel" erfuhr seit der Einführung des Straftatbestands im Jahre 1973 drei grundlegende Änderungen (1992, 2005, 2016), die jedoch den Abwärtstrend nicht aufzuhalten vermochten.
- GERINGE ZAHL MUTMAßLICHER OPFER: Im Schnitt der letzten 8 Jahre gab es gerade einmal 210 polizeilich registrierte, mutmaßliche Opfer von Menschenhandel pro Jahr. Bei 90.000 hierzulande tätigen Sexarbeiter*innen sind damit gerade einmal 0,2 % aller Sexarbeiter*innen mutmaßlich von „Menschenhandel" betroffen.
- KAUM VERURTEILUNGEN: Die Zahl der Verurteilungen im Falle von Menschenhandel ist extrem gering. In den vergangenen 7 Jahren lag sie bei nur 6 % aller Tatverdächtigen. Das waren im Schnitt 13 Verurteilungen pro Jahr wegen Menschenhandels in Deutschland!
- 1 VERURTEILUNG AUF 6,4 Mio. EINWOHNER: 13 Verurteilungen im Schnitt pro Jahr heißt: Es kommt gegenwärtig nur 1 Verurteilung wegen Menschenhandels (in die Prostitution) auf 6,4 Millionen Einwohner*innen hierzulande.
- GERICHTLICH BESTÄTIGTE OPFER IM PROMILLEBEREICH: Da auf einen Tatverdächtigen etwa 1,2 Opfer kommen, entsprechen 13 Verurteilungen pro Jahr ca. 16 gerichtlich bestätigten Opfern von Menschenhandel in die Prostitution. Das heißt: Nur 0,02 % aller 90.000 in der Prostitution tätigen Sexarbeiter*innen sind gerichtlich bestätigte Opfer von Menschenhandel. Ein Betrag im Promillebereich!
- ZENIT DER VERURTEILUNGEN ÜBERSCHRITTEN: Der Höhepunkt der Verurteilungen wegen „Menschenhandels" lag mit 164 Verurteilungen bereits im Jahre 1998, also vor mittlerweile 25 Jahren. Von da an ging's bergab.
- NUR 2 VERURTEILUNGEN: Zuletzt gab es in Deutschland gerade einmal zwei Verurteilungen zu Menschenhandel im gesamten Jahr 2023.
Sie werden angesichts der hier genannten Daten und Größenordnungen sicherlich zugestehen, dass die Einschätzung in Ihrem Koalitionsvertrag, Deutschland sei eine „Drehscheibe beim Menschenhandel", allen vorliegenden Erkenntnissen widerspricht und deshalb nicht nachvollziehbar ist.
Da auch die Dunkelfeldforschung keine „verlässlichen Daten über das Dunkelfeld des Menschenhandels" liefern kann (vgl. Rita Haverkamp, Evidenzbasierte Kriminalprävention im Bereich Menschenhandel, 2018, S. 782), möchten wir Sie bitten, sich von der fragwürdigen Aussage in Ihrem Koalitionsvertrag öffentlich zu distanzieren.
Uns ist sehr daran gelegen, öffentliche Debatten über Prostitution auf sachlich-rationaler, empirisch nachvollziehbarer und evidenzbasierter Grundlage zu führen. Wir hoffen, dass Sie diesen Anspruch teilen.
In Erwartung Ihrer Antwort verbleibe ich mit freundlichen Grüßen
Juanita Henning, Sprecherin Doña Carmen e.V.
Quellen:
BKA, Polizeiliche Kriminalstatistik, 1978 - 2024 https://www.bka.de/DE/AktuelleInformationen/StatistikenLagebilder/PolizeilicheKriminalstatistik/pks_node.html
Statistisches Bundesamt, 1975 - 2023 https://www.destatis.de/DE/Themen/Staat/Justiz-Rechtspflege/_inhalt.html#_tahakmozq
Pressemitteilung 10.4.2025