Hessen blockiert Bundesmittel für die Beratung der Opfer rassistischer Gewalt

erstellt von Bildungsstätte Anne Frank — zuletzt geändert 2020-07-01T17:46:13+02:00
Arbeit der Beratungsstelle Response gefährdet
  • Bund bewilligt nach Anschlag von Hanau 50.000 Euro für Beratungsstelle response – Hessisches Innenministerium verweigert die Auszahlung
  • Das Geld wird dringend für die Bezahlung von Berater*innen gebraucht, die Betroffene des Anschlags in Hanau unterstützen
  • response ist bereits zum wiederholten Male Schikane durch das Innenministerium ausgesetzt Pressemitteilung 22. Juni 2020

Die Beratungsstelle response in der Bildungsstätte Anne Frank fordert das Hessische Innenministerium auf, sich klar für Betroffene rechter Gewalt zu positionieren und die für die Beratung von Hinterbliebenen des Anschlags von Hanau gedachte Soforthilfe des Bundes endlich an response weiterzuleiten. Die Blockadehaltung des Landes gefährdet die Arbeit der Beratungsstelle: Denn ohne die Freigabe des Geldes für Personal, kann response dem enormen Beratungsbedarf der Betroffenen in Hanau und anderer Menschen, die hessenweit rechte, rassistische oder antisemitische Gewalt erfahren haben, nicht angemessen begegnen.

„Nach dem rechtsterroristischen Anschlag von Hanau hieß es in Politik und Öffentlichkeit, man werde für die Hinterbliebenen und weitere betroffene Menschen in Hanau da sein. Wenn diese Worte ernst gemeint waren, muss das Land Hessen sich zu seiner Verantwortung bekennen und die Unterstützung für response, die einzige fachspezifische Opferberatung für Betroffene rassistischer Gewalt in Hessen, verstärken, statt die Auszahlung zugesagter Bundesmittel zu blockieren“, so Olivia Sarma, Leiterin von response.

Response wird finanziert durch das Hessische Ministerium des Inneren und für Sport (HMIS) und das Bundesprogramm „Demokratie leben!“. Seit dem Mord an Walter Lübcke vor einem Jahr sind die Unterstützungsanfragen von Betroffenen bei response kontinuierlich gestiegen; seit dem Anschlag in Hanau reichen die vom Land Hessen und dem Bund zur Verfügung gestellten Mittel nicht mehr aus, um flächendeckend eine Beratung für alle Angegriffenen zu gewährleisten. Nach dem Anschlag von Hanau hatte deshalb das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) response bereits im März finanzielle Soforthilfen in Höhe von 50.000 Euro zugesagt. Während die Opferberatung in Sachsen-Anhalt eine entsprechende Summe nach dem Anschlag von Halle längst erhalten hat, verweigert das dem HMIS unterstellte Hessische Informations- und Kompetenzzentrum gegen Extremismus (HKE) die Weiterleitung der Bundesmittel an response seit Monaten und will sie explizit nicht für Personalkosten zur Verfügung stellen. Ohne die Bezahlung für die bereits geleistete Mehrarbeit in Hanau und Personalaufstockung aber kann response nicht mehr angemessen für die Betroffenen rechter Gewalt in Hessen da sein – die hessenweite Beratungsarbeit stünde ab Herbst in Frage.

„Seit Monaten bleibt uns das Innenministerium eine Antwort schuldig, warum es das Geld zurückhält, das wir dringend benötigen, um die zusätzliche Arbeit zu entlohnen, die unser Team vor Ort in Hanau leistet. Gegenüber der Presse behauptet das Ministerium nun, es gäbe eine vom Bund vorgegebene Zweckbindung, wonach das Geld nicht für Personal ausgegeben werden dürfe. Das ist reine Schikane. Wir haben das Geld beim Bund ausdrücklich für Personal eingefordert – das Land Hessen hat es aber nur für Sachmittel abgerufen“, erläutert Sarma. „Vier der fünf Frankfurter Berater*innen sind seit Februar fast ausschließlich in die Begleitung Hinterbliebener und anderer Betroffener des Anschlags von Hanau eingebunden. Unsere beiden Kasseler Beraterinnen begleiten den Nebenkläger Ahmed I. im Strafprozess gegen Stephan E. Wie sollen wir in dieser Situation die vielen anderen Betroffenen hessenweit unterstützen?“, so Olivia Sarma weiter. Überstunden können nicht ausgeglichen, dringend benötigte zusätzliche Berater*innen nicht eingestellt werden. „Seit Jahresbeginn haben uns bereits 100 Beratungsanfragen erreicht – viele von schwer traumatisierten Menschen, die durch die ihnen angetane Gewalt existenziell erschüttert sind. Sie brauchen jetzt sofort und über eine lange Zeit unsere Unterstützung – das unwürdige Gebaren der Landespolitik ist nicht nur ein Signal an uns, sondern vor allem an die Betroffenen rechter und rassistischer Gewalt, dass der Staat sie weiterhin alleine lässt. Und das in einem Bundesland, das in den vergangenen zwölf Monaten elf Mordopfer rechten Terrors verzeichnet. Das ist unerträglich.“

Die Zahl der Betroffenen des Anschlags von Hanau geht weit über die Familien der Ermordeten hinaus – response geht von mindestens 80 bis 100 Personen aus, die langfristige Unterstützung benötigen werden. Dass es unabhängige und verlässliche Fachberatungsstellen wie response braucht, weiß Newroz Duman von der Initiative 19. Februar Hanau zu berichten: „Wir sind jeden Tag mit den Angehörigen und Überlebenden in engem Kontakt und wissen um die enormen Folgen des rassistischen Terrors. Die Arbeit von response hier vor Ort ist unverzichtbar: ohne ihre Beratung würden viele Betroffene nicht versorgt werden können und blieben mit den schwerwiegenden Belastungen alleine.“

Doch auch über Hanau hinaus häufen sich die Beratungsanfragen von Menschen aus ganz Hessen, die rechte, rassistische oder antisemitische Gewalt erlebt haben. Response ist die einzige Beratungsstelle in Hessen, die speziell diese Zielgruppe unterstützt: „Die unabhängigen Opferberatungsstellen haben eine wichtige Leuchtturmfunktion. Es gehört zu ihren Aufgaben, die Perspektiven und Forderungen von Betroffenen von rassistischer, rechter und antisemitischer Gewalt öffentlich zu machen und dazu gehört auch, polizeiliches Fehlverhalten, rassistische Polizeigewalt oder institutionellen Rassismus zu benennen und zu kritisieren“, sagt Judith Porath, Vorstandsmitglied im Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG). „Das hat in den letzten zwanzig Jahren immer wieder auch zu Konflikten geführt; doch inzwischen wird in vielen ostdeutschen Bundesländern die Arbeit der Opferberatungsstellen als Notwendigkeit begriffen – das erwarten wir von Hessen auch“, so Porath.

Dass response als Beratungsstelle für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt ausgerechnet in die Förderzuständigkeit des Innenministeriums fällt, führt seit Jahren zu strukturell bedingten Konflikten. Seit die Beratungsstelle in der Vergangenheit im Rahmen ihres Beratungsauftrages öffentlich auch Polizeiarbeit kritisiert hat – unter anderem im Zuge der Diskussion über rechtsextreme Strukturen in der hessischen Polizei – gerät die Beratungsstelle zunehmend unter Druck durch das Innenministerium: „Wir wissen, dass der aktuelle Konflikt mit dem Innenministerium darin begründet liegt, dass wir kritische Themen im Sinne unserer Beratungsnehmenden wiederholt öffentlich thematisiert haben. Das Innenministerium nutzt die Blockade der längst bewilligten Soforthilfe des Bundes nun als bürokratisches Druckmittel gegen uns, um in die Arbeit von response zu intervenieren – und das nicht zum ersten Mal“, sagt Olivia Sarma. „Wir können Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt aber nur angemessen unterstützen, wenn wir Ihre Erfahrungen auch deutlich benennen und uns unabhängig politisch für die Rechte der Betroffenen positionieren können. Es liegt ein grundsätzlicher Konstruktionsfehler in der Förderpolitik des Landes vor, wenn das Innenministerium durch Einfluss auf unsere Beratungsarbeit versucht, die Betroffenen rechter Gewalt zum Schweigen zu bringen.“

Bildungs- und Beratungsangebote der Bildungsstätte Anne Frank

Als Zentrum für politische Bildung und Beratung Hessen mit Standorten in Frankfurt/Main und Kassel entwickelt die Bildungsstätte Anne Frank innovative Konzepte und Methoden, um Jugendliche und Erwachsene gegen Antisemitismus, Rassismus und verschiedene Formen von Diskriminierung zu sensibilisieren und für die aktive Teilhabe an einer offenen und demokratischen Gesellschaft zu stärken – auch in Form digitaler Bildungsformate. Die Bildungsstätte Anne Frank vernetzt verschiedene Gruppen und Communities und bringt sie miteinander ins Gespräch – im Rahmen von wechselnden Sonderausstellungen, öffentlichen Informations- und Diskussionsveranstaltungen sowie Konferenzen und Fachtagen. Lehrkräfte und Pädagog*innen erhalten Beratung in akuten Konfliktfällen sowie zum Umgang mit Radikalisierung und radikalisierten Jugendlichen. Zwei hessische Beratungsstellen sind in der Bildungsstätte Anne Frank angesiedelt: response unterstützt Betroffene von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt, das ADiBe-Netzwerk berät Menschen, die Diskriminierung erfahren haben. Auf dem neuen Meldeportal hessenschauthin.de können rechte und rassistische Vorfälle gemeldet werden.

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Bildungsstätte Anne Frank, Pressemitteilung, 22. Juni 2020