Hartz IV vor dem Bundesverfassungsgericht: Bundesagentur exerziert Sonderrecht gegen Erwerbslose – jetzt Überprüfungsanträge stellen!

by Tacheles e.V. veröffentlicht 30.01.2010

Am 9. Februar 2010 wird das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) seine Entscheidung zu den Regelleistungen verkünden. Das Gericht überprüft die Höhe der Erwachsenen- und der Kinderregelleistung mit Blick auf die Menschenwürde, das Sozialstaatsgebot, die Möglichkeit der Öffnung der Regelleistung für individuelle Bedarfe und die Bemessungsmethode für nichts Geringeres, als das soziakulturelle Existenzminimum.

Gleichzeitig geht es um einen sozialpolitischen Skandal: Die damalige rot-grüne Bundesregierung hat die Regelleistungen ganz bewusst zu niedrig bemessen, um den Druck zu erhöhen für Niedriglöhne unter schlechten Arbeitsbedingungen zu arbeiten. Mit der Neubemessung der Regelleistung wurde „Hartz IV-Kindern” der wachstumsbedingte Bedarf aberkannt. Mit der Folge, dass ihre Zukunft, Ausbildung und materielle Teilhabe durch planmäßige Unterfinanzierung aufs Spiel gesetzt wurde.

Zunächst jedoch zur aktuellen Entwicklung:

1. Das Vorgehen der BA und SGB II-Leistungsträger

Nach der letzten Tacheles-Veröffentlichung zu den Überprüfungsanträgen ist viel passiert. So hat die Bundesagentur für Arbeit (BA) am 20.12.2009 eine Dienstanweisung (HEGA 12/09 – 14) erlassen, nach der alle Überprüfungsanträge „als unbegründet” abzulehnen seien.

Vergleichbare Weisungen der BA muss es aber bereits vorher gegeben haben, da uns aus dem Zeitraum seit Beginn des BVerfG-Verfahrens Ablehnungsbescheide von Überprüfungsanträgen mit gleichlautender bzw. ähnlicher Begründung vorliegen. Im Wesentlichen lassen sich daraus folgende Ablehnungsgründe herausfiltern:

  • Vor dem BVerfG würde nur die Höhe der Kinderregelleistung geprüft, daher sei ein Überprüfungsantrag in Bezug auf die Höhe der Erwachsenenregelleistung nicht zulässig und abzulehnen.
  • Ein Überprüfungsantrag ohne Benennung der einzelnen Bescheide, die zu überprüfen seien, sei nicht hinreichend bestimmt und daher unzulässig.
  • Sollte es zu einer rückwirkenden Erhöhung der Regelleistungen kommen, liege es in der Verantwortung des Gesetzgebers, die hierfür notwendigen Voraussetzungen zu schaffen. … Daher seien die derzeitigen Bescheide rechtlich nicht zu beanstanden. … Aus diesem Grund läge keine unrichtige Rechtsanwendung im Sinne des § 44 SGB X vor.

Auffallend ist, dass die Überprüfungsanträge binnen kürzester Zeit, teilweise sogar noch am Tag der Antragstellung abgelehnt werden. Im Regelfall passiert das jedoch spätestens innerhalb von zwei Wochen. Eine derartig zeitnahe Bearbeitung von Anträgen gibt es sonst in der SGB II-Verwaltungspraxis nicht. Immerhin wird zumindest ein kleiner Anteil der Überprüfungsanträge von den SGB II-Trägern auch ruhend gestellt.

Vielen Ablehnungen ist gemein, dass die SGB II-Leistungsträger mit der falschen Behauptung operieren, dass es beim BVerfG nur um die Kinderregelleistungen ginge.

Auch die zweite Begründung, „der Antrag sei ohne Benennung der jeweiligen zu überprüfenden Bescheide unzulässig”, ist eine unrichtige Behauptung. Die Antragsteller haben benannt, was sie überprüft haben wollen und § 44 Abs. 1 SGB X bestimmt, dass bei Kenntnis einer Rechtswidrigkeit die Behörde von Amtswegen den Sachverhalt zu überprüfen hat. Das gilt zumindest dann, wenn sich ihr erschließt, dass möglicherweise eine falsche Rechtsanwendung vorgelegen hat. Die Pflicht von Amtswegen zu prüfen bedeutet aktives Tätigwerden der Behörde. Keinesfalls jedoch das Ablehnen eines Antrages wegen vorgeschobener formaler Gründe unter Darstellung falscher Tatsachen.

Ziel dieser Vorgehensweisen scheint die bundesweite Welle von Überprüfungsanträgen abzuwürgen und die Betroffenen auf den individuellen Rechtsweg zu verweisen. Die Ablehnungsbescheide sollen wirksam werden, was in der Rechtfolge bedeutet, es gibt keinen Überprüfungsantrag mehr, das Verfahren ist somit abgeschlossen. Um die Wirksamkeit der Ablehnungsbescheide zu verhindern, müssen Betroffene fristgerecht Widerspruch einlegen und in den Fällen, in denen ein ablehnender Widerspruchsbescheid erlassen wird, vor dem Sozialgericht klagen.

Der Verein Tacheles hat im Oktober die Geschäftsführung der BA angeschrieben und angeregt, eine Regelung über die Ruhendstellung der Überprüfungsanträge zu erlassen. Eine solche Regelung wurde von der BA jedoch abgelehnt. Zeitgleich hat sie die HEGA vom 20.12.2009 herausgegeben, in der die Ablehnung der Anträge von oben angewiesen wurde.

In den beschriebenen Weisungen der BA und des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) wird deutlich, dass Sonderecht im Umgang mit den Hartz IV-Beziehern angeordnet wird. Man kann sich gewiss über die Erfolgsaussichten der Überprüfungsanträge streiten, korrektes behördliches Vorgehen wäre gewesen, alle Anträge bis zur Entscheidung des BVerfG ruhend zu stellen und dann sachgerecht auf Grundlage des Urteils zu entscheiden. Alles andere ist unfairer Umgang mit LeistungsbezieherInnen und nicht im Sinne der gesetzlichen Vorschriften (§ 40 Abs. 1 S. 2 Nr. 1a SGB II i.V.m. § 328 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB III), die in diesen Fällen explizit – auch für das SGB II – eine Vorläufigkeitserklärung vorsehen.

In einem Teil der neuen Bescheide findet sich eine solche Zusicherung der Vorläufigkeitsentscheidung. Doch auch hier gibt es Fußangeln: In den Bescheiden wird zugesichert, dass ein Überprüfungsantrag für bzw. Widerspruch gegen den aktuellen Bescheid nicht notwendig sei, denn wenn das BVerfG entscheide, die Kinderregelleistungen seien zu niedrig, würde der Leistungsträger die Nachzahlung zusichern. Das bedeutet, die Zusicherung gilt nur für den jeweils laufenden Bewilligungsabschnitt, über den mit dem Bescheid entschieden wurde. Sie bezieht sich aber nicht auf vorangegangene Zeiträume. Ferner bezieht sich die Zusicherung nur auf Kinderregelleistungen, nicht auf die Regelleistung von Erwachsen. Sollten auch diese vom BVerfG rückwirkend zur Disposition gestellt werden, gingen AntragstellerInnen leer aus.

WEITERE INFORMATIONEN UND MUSTERANTRÄGE UNTER: http://www.tacheles-sozialhilfe.de/aktuelles/2010/Rueckwirkend_Ansprueche_Sichern_Update.aspx