Die langen Schatten des Pinochet-Regimes

erstellt von FIR — zuletzt geändert 2022-09-09T08:53:47+01:00
Die Überwindung der faschistischen Regime und Folgen der verschiedenen Militärdiktaturen in Lateinamerika ist komplizierter, als manche es von außen erwartet haben. Das zeigte sich erneut am vergangenen Sonntag bei der Abstimmungsniederlage für die neue chilenische Verfassung.

Zwar liegt das Ende der Pinochet-Herrschaft schon einige Jahrzehnte zurück, doch wirkt das politische und ökonomische Regime, wie es durch den autoritären Neoliberalismus mit der Privatisierung von sozialer Vorsorge, von Bildung und anderen gesellschaftlichen Aufgaben sowie selbst der Nutzung von Trinkwassern eingerichtet wurde, weiter.

Hier gegen gab es im Herbst 2019 einen breiten Volkswiderstand der damit beruhigt wurde, dass den Kräften der lernenden und studierenden Jugend, den Angehörigen indigener Völker und anderen Protestierenden die Neuformulierung einer Verfassung angeboten wurde, mit dem diese gesellschaftlichen Missstände überwunden werden sollten. Angesichts der breiten Proteste wurde ein gesellschaftliches Beratungsforum eingerichtet, in dem die reaktionären Kräfte deutlich in der Minderheit waren, in dem sogar – einzigartig in der Welt – eine Geschlechterparität festgelegt worden war und auch die indigenen Völker Chiles eine angemessene Vertretung besaßen. In einem langwierigen Diskussionsprozess, bei dem es darum ging, die unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessenslagen auszutarieren, entstand ein Verfassungsentwurf, der tatsächlich einen gesellschaftlichen Fortschritt darstellte. Der Verfassungstext war ein Echo des "nunca más!" („Nie wieder!"), das die Errichtung eines autoritären Regimes und die Verletzung der Menschenrechte ausschließen sollte.

Ungewöhnlich war bereits der erste Artikel der neuen Verfassung: "Chile ist ein sozialer, demokratischer und rechtsstaatlicher Staat. Er ist pluri-national, interkulturell, regional und ökologisch. Er ist als solidarische Republik konstituiert. Seine Demokratie ist inklusiv und paritätisch. Er erkennt die Würde, die Freiheit, die substanzielle Gleichheit des Menschen und seine unauflösliche Beziehung zur Natur als intrinsische und unveräußerliche Werte an".
Mit dieser Beschreibung wurden die Forderungen der gesellschaftlichen Bewegungen, die die Proteste im Herbst 2019 getragen hatten, in einen Verfassungsrang erhoben.

Es ging um einen demokratischen Wiederaufbau des sozialen Gefüges mit Gesundheitsvorsorge für alle Bürger im gesamten Lebenszyklus. Mit der Definition des Staates als pluri-national, interkulturell und mehrsprachig wurden die Forderungen der indigenen Völker berücksichtigt, was sich auch in der Schaffung dezentraler Institutionen ausdrückte. Der Text garantierte grundlegende Arbeiterrechte wie Vereinigungsfreiheit, Streikrecht und Tarifverhandlungen.

Im globalen Vergleich war die vorgeschlagene Verfassung in Chile eine der demokratischsten und fortschrittlichsten der Welt. Damit hätte sie – nicht nur in Lateinamerika – einen Vorbildcharakter für das Überleben des Planeten und das Zusammenleben der Menschheit gehabt.

Doch es kam anders. Natürlich haben die Vertreter der Protestbewegung alles in ihrer Macht stehende dafür getan, eine Zustimmung (Apruebo) zu erreichen. Am 1. September 2022 demonstrierten etwa 500.000 Menschen in Santiago de Chile für die Annahme der neuen Verfassung. Die rechte Rechazo (Ablehnung)-Kampagne gegen die neue Verfassung mobilisierte zwar nur ca. 1.000 Personen. Aber ihre Medienstrategie, die mit Falschaussagen und Verunsicherungen der Bevölkerung arbeitete, war umso erfolgreicher.

Die reaktionären Kräfte, die im Verfassungskonvent keine Mehrheit hatten, mobilisierten diejenigen an die Wahlurne, die Angst vor der Geschlechterparität hatten, die glaubten, dass den indigenen Völkern zu viele Rechte eingeräumt würden, Kleinbürger, denen Angst um ihre wirtschaftliche Selbstständigkeit eingeredet wurde. Gehörten schon in den 1970er Jahren die kleinen Transportunternehmer zu den Unterstützern des Pinochet-Putsches, so waren es auch diesmal die kleinen Gewerbetreibenden, die aktiv in der Rechazo-Kampagne wirkten. Das Ergebnis fiel deutlicher aus als erwartet. Über 60% der Chilenen lehnten den Verfassungsentwurf ab. Die Pinochet-Verfassung gilt weiter.

Damit will sich die demokratische Bewegung nicht abfinden, sie fordert die Weiterführung des Verfassungsprozesses. Der linke Staatspräsident, der als „Hoffnungsträger" gestartet war, zeigt jedoch, dass er bereit ist, auf die konservativen und reaktionären Kräfte zuzugehen. Falls es eine neue Verfassung geben sollte, wird sie auf keinen Fall mehr diesen progressiven Charakter besitzen. Es ist politisch enorm schwer, die langen Schatten der Pinochet-Diktatur zu überwinden.

FIR Newsletter 2022-36 dt., 9.9.2022