Corona-Impfstoff - Privat sticht öffentlich

erstellt von medico international — zuletzt geändert 2020-11-16T19:51:03+01:00
Corona ist dann vorbei, wenn es für alle vorbei ist. Doch Europas Regierungen untergraben die globale Kooperation zur Überwindung der Gesundheitskrise.

Von Anne Jung

Die Erleichterung über die Erfolgsmeldungen bei der Impfstoffentwicklung dürfte in Frankfurt weitaus größer gewesen sein als in den Armenvierteln von Dhaka oder Nairobi. Ob von dem Impfstoff etwas für die Länder des Südens abfällt ist noch völlig ungeklärt. In der Berichterstattung fand der Rest der Welt nicht mal mehr Erwähnung. Das ist nicht nur ungerecht, sondern auch unvernünftig, denn eine epidemiologische Erkenntnis gilt weiterhin: Es ist dann vorbei, wenn es für alle vorbei ist. Das weiß auch die Politik.

„Niemand ist sicher vor COVID-19, bevor nicht alle davor sicher sind. Selbst wer das Virus in seinen eigenen nationalen Grenzen besiegt, bleibt Gefangener dieser Grenzen, solange es nicht überall besiegt ist.“ Völlig zutreffend beschreibt Bundespräsident Frank Walter Steinmeier das Wesen der Pandemie: Die Befreiung vom Virus bedarf eines globalen Handelns. Deutschland, Europa und alle anderen großen Industrienationen verhindern allerdings genau das. Eine kleine Gruppe reicher Länder, die 13 Prozent der Weltbevölkerung repräsentieren, hat sich bereits mehr als die Hälfte der zukünftigen Versorgung mit führenden COVID-19-Impfstoffen gesichert, berichtet Oxfam. Konkret haben die reichen Länder bereits mehr als fünf Milliarden Dosen von Impfstoffen aus den Kandidatenländern gekauft oder sind dabei, sie zu kaufen, bevor die klinischen Studien abgeschlossen sind. Weniger als 800 Millionen Dosen sind für die ärmsten Länder der Welt vorgesehen, berichtet die Duke University in einer kürzlich veröffentlichten Studie. Auch Deutschland hat solche Exklusivverträge abgeschlossen.

Nimmt man die richtungsweisenden Entscheidungen seit Beginn der Pandemie genauer in den Blick, wird schnell deutlich, dass die Industrienationen an einer neoliberalen Politik festhalten, die das Recht auf Gewinn für Unternehmen gegen die Menschenrechte, konkret den gerechten und gleichen Zugang zu den Impfstoffen, absichert. Diese Ordnung wird mit aller Gewalt verteidigt und das ist durchaus wörtlich zu verstehen: Betrachtet man das Ringen um die kommenden Impfstoffe, zeigt sich, wie die Krise gelöst werden soll – auf Kosten der Armen. Die Nebenwirkungen sind tödlich und werden auch die wirtschaftliche, geographische und soziale Ungleichheit dramatisch vergrößern. Es droht die Restaurierung der Zweiteilung der Welt in Nord und Süd, auch wenn deren Überwindung verbal immer wieder bekräftigt wird.

Vorstoß von Indien und Südafrika

An Alternativen mangelt es indes nicht. Kürzlich beantragten die Regierungen von Indien (mit 115.914 Corona-Toten weltweit auf Platz drei) und Südafrika, das wie kein anderes afrikanisches Land von der Corona-Pandemie betroffen ist, bei der Welthandelsorganisation (WTO, nicht zu verwechseln mit der Weltgesundheitsorganisation WHO) eine Ausnahmeregelung im TRIPS-Abkommen von 1994, in dem die handelsbezogenen Aspekte des geistigen Eigentum geregelt werden. Gebraucht werde, argumentieren Indien und Südafrika, eine grundlegende und umfassende Aussetzung der Regelungen, bis die Weltbevölkerung eine Immunität gegen das Virus entwickelt hat.

Das umkämpfte und bis heute umstrittene TRIPS-Abkommen wurde 1995 auf Initiative der Industrienationen und internationaler Unternehmen wie Microsoft geschlossen. Explizites Ziel war es, Einwände aus den Ländern des globalen Südens bei vorherigen Handelsrunden auszubooten. Doch das Abkommen sieht Ausnahmeregelungen vor, die es im Falle eines Gesundheitsnotstandes gestatten, über sogenannte Zwangslizenzen oder Parallelimporte Medikamente oder einen Impfstoff unter Umgehung des Patentschutzes kostengünstig und lokal herzustellen. Der von Südafrika und Indien nun vorgeschlagene „Waiver“, also eine Verzichtserklärung, geht weiter als die vorgesehenen Ausnahmeregelungen. Schon bei der ersten Aussprache im Oktober dieses Jahres lehnten alle großen Industrienationen, darunter die gesamte EU, den Vorschlag ab. Es wird zwar weiter verhandelt, aber die Mehrheitsverhältnisse geben wenig Anlass für Optimismus. Da es außer Zweifel steht, dass es sich bei der Covid-19 Pandemie um einen gesundheitlichen Ausnahmezustand handelt, muss es andere Gründe für diese Blockadehaltung geben: Die Interessen der Pharmaindustrie haben Vorrang.

Dabei mangelt es nicht an Erfahrungen, wie verheerend es sich auswirkt, wenn die globale Gesundheitspolitik ihnen folgt. Schon während der HIV-Aids-Pandemie der 1980er Jahre – die keineswegs vorbei ist, an der Krankheit sterben jährlich weiterhin mehr als eine halbe Million Menschen – argumentierten Industrienationen und die Pharmaindustrie, dass ein starker Patentschutz zur Förderung von Innovationen nötig sei. Dieser Erklärungsversuch hält sich hartnäckig im öffentlichen Bewusstsein und ist wohl eine der größten Werbeerfolge der Pharmaindustrie. Dabei gibt es keinerlei Evidenz. Infolge der Patentregelung, für die TRIPS nur beispielhaft steht, musste jahrelang jede Kostensenkung in weltweit vernetzten politischen Kämpfen erstritten werden. Zehntausende starben wegen der hohen Kosten für Medikamente allein an Aids. Die Politik hat dennoch beschlossen hat, aus diesen Erfahrungen nichts zu lernen. Die Regierungen der Welt stellen Milliarden für Forschung und Entwicklung bereit, alleine die EU ist mit 6,5 Milliarden Euro dabei. Das sind größtenteils öffentliche Mittel, von denen große Summen an die Pharmaindustrie gehen, ohne dass die Preispolitik für den künftigen Impfstoff im öffentlichen Interesse geregelt wurde.

Blockade in der WHO  

Ähnliches ereignete sich im Rahmen der WHO. Auch hier wird um alternative Wege gerungen. Die WHO hatte schon sehr früh die Gefahr erkannt, dass das bestehende Patentregime Innovationen eher behindert als begünstigt. Aus diesem Grund kündigte sie auf Initiative von Costa Rica im Juni die Gründung des COVID-19 Technology Access Pools (C-TAP) an. Der C-TAP soll eingerichtet werden, um Patente und alle anderen Formen von geistigem Eigentum wie Know-how, Daten, Geschäftsgeheimnisse, Software zu sammeln und den Technologietransfer zu unterstützen. Die Schaffung eines Patentpools hat bereits bei der Bekämpfung des HIV-Virus gezeigt, dass solche Verfahren durchgesetzt werden können und erfolgreich sind. Heute ist das gesamte geistige Eigentum der von der WHO empfohlenen Behandlungen von HIV an den Patentpool lizenziert.

40 Länder haben die C-TAP-Initiative unterstützt. Es sind fast ausnahmslos Länder aus dem globalen Süden. Länder, in denen Pharmaunternehmen ansässig sind, sind jedoch nicht dabei. Die Reaktion der Pharmaindustrie selbst ließ auch nicht lange auf sich warten: Das Pharmaunternehmen Pfizer hält den Vorschlag für „gefährlich“ und für „Unsinn“, AstraZeneca empfiehlt, die Pharmaindustrie sollte auf „freiwilliger Basis einige ihrer Produkte ohne Profitinteresse abgeben“. Faktisch alle Industrienationen haben sich dieser Haltung angeschlossen und setzen auf ein Gegenmodell: ACT („Tu was!“), kurz für „Access to COVID-19 Tools“, ist ein klassisches Projekt privat-öffentlicher Zusammenarbeit. Beteiligt sind Regierungen und die Industrie, Impfallianzen und philanthropische Stiftungen, vor allem die Bill & Melinda Gates Stiftung. Der wichtigste Unterschied zur WHO-Initiative liegt darin, dass bei ACT die Frage der Patente unangetastet bleibt. Diese Allianz bietet vor allem den privatwirtschaftlichen Akteuren einen Raum, Wohltätigkeit zu inszenieren und dabei die Frage der öffentlichen Güter auszuklammern.

Global reden, national handeln

Eine Gesundheitsforschung, deren Anreiz allein die Aussicht auf ein Patent ist, schließt genau jene Menschen vom Zugang zu Arzneimitteln aus, die sie am dringendsten benötigten. Die Länder des Südens geraten durch ACT in Abhängigkeit von humanitären Gesten der Industrienationen und müssen sich bei der Verteilung des Impfstoffs hinten anstellen.Würdendie politischen Rahmenbedingungen dafür geschaffen, medizinisches Wissen und seine Endprodukte als Gemeingut der Menschheit zu behandeln, könnten Impfstoffe gerecht an diejenigen verteilen werden, die sie am dringendsten brauchen, zum Beispiel Gesundheitsarbeiterinnen in den Armenvierteln von Nairobi, Rio oder Hamburg-Veddel. Für das Gesundheitspersonal sind allerdings zunächst nur 3% der Impfdosen vorgesehen.

Gefordert ist die Entwicklung eines Konzepts, das Arzneimittel und andere unentbehrlichen Bereiche der Daseinsvorsorge als öffentliche Güter begreift und prinzipiell vom Patentschutz ausnimmt. Die Haltung der Industrienationen und der Bundesregierung zeigt, wie kümmerlich der viel beschworene Multilateralismus Deutschlands und Europas in Wahrheit ist. Er ist nicht viel mehr als die Summe von Nationalismen der dominanten Staaten, verpackt in schöne Worte ohne Bedeutung.

Medikamente für Alle

Der von medico gemeinsam mit Organisationen aus über 30 Ländern lancierte Aufruf "Patente töten" fordert von den Regierungen eine an den Gesundheitsbedürfnissen der Menschen ausgerichtete Politik, die Arzneimittel als globale öffentliche Güter behandelt und die Macht von Pharmaunternehmen im öffentlichen Interesse begrenzt. Jetzt beteiligen!

Zur Kampagnenseite "Patente töten"

Quelle: medico international, https://www.medico.de/blog/privat-sticht-oeffentlich-17956, Veröffentlicht am 11. November 2020