Ausstellung: Ausgerechnet Deutschland! Jüdisch-russische Einwanderung in die Bundesrepublik
Vom 12. März bis 25. Juli 2010 im Jüdischen Museum:


Ehemalige Synagoge, später Kino, Cherniwci, 1987. Foto: Barbara Klemm
„Ein
deutsches Judentum gibt es nicht mehr, das hat '33 aufgehört zu
existieren. Andererseits besteht die Chance durch die Zuwanderung der
Juden aus Osteuropa, spezifisch aus Russland, dass ein neues deutsches
Judentum entsteht, aber es wird ein anderes sein als das vor '33”,
äußert der Historiker Julius H. Schoeps im Zusammenhang mit dem
grundlegenden Wandel jüdischen Lebens in Deutschland nach dem Mauerfall.
Von einer nur vorübergehend hier ansässigen hat sie sich zu einer nun
definitiv dauerhaft etablierten Gemeinschaft entwickelt.
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Deutsches Judentum zwei
Seit
1989, keine 50 Jahre nach dem Holocaust, entschieden rund eine
Viertelmillion postsowjetischer Juden, sich ausgerechnet in Deutschland
ein neues Leben aufzubauen. Dem Judentum vielfach entfremdet,
erwarteten sich diese Menschen hier bessere Zukunftsperspektiven –
zumindest für ihre Kinder. Rund 95.000 dieser Immigranten gehören heute
jüdischen Gemeinden an – bei insgesamt etwa 110.000 Mitgliedern. Für
die Gemeinden bedeutet die Einwanderungswelle also einen fundamentalen
Einschnitt: Eine Minderheit sah sich plötzlich vor der Aufgabe, eine
Mehrheit zu integrieren. Dabei prallen prinzipiell sehr
unterschiedliche Sichtweisen und Mentalitäten aufeinander.
Der politische Entscheidungsprozess seitens der deutschen Regierung wie
auch der Wandel der jüdischen Gemeinschaft vollzog sich weitgehend
unbeachtet von der deutschen Öffentlichkeit. So
ist es zwanzig Jahre nach Beginn der jüdischen Migration an der Zeit,
erstmals anschaulich und publikumswirksam Bilanz zu ziehen: Welche
Auswirkungen hat diese beachtliche Einwanderung für Gegenwart und
Zukunft des Judentums in Deutschland? Fanden die Migranten Wege in die
jüdischen Gemeinden und die deutsche Gesellschaft, und wenn ja –
welche? Wie sahen die politischen und gesellschaftlichen
Rahmenbedingungen aus? Wie gestaltet sich der Lebensalltag der
Einwanderer? Welche Probleme ergeben sich zwischen Alteingesessenen und
Zuwanderern? Was ist Judentum in Deutschland heute eigentlich? Diesen
und vielen anderen zum Teil kontroversen Fragen widmet sich die
Ausstellung „Ausgerechnet Deutschland! Jüdische Einwanderung in die
Bundesrepublik”.
Dabei nehmen Kurator
Dmitrij Belkin und sein Team die Besucher auf eine anregende Erkundung
bis in die Gegenwart mit. Denn der Integrationsprozess und die
Neupositionierung der jüdischen Gemeinden, in denen heute überwiegend
russisch gesprochen wird, sind noch lange nicht abgeschlossen. Außer
der historisch-politischen Dokumentation der Ereignisse und vielen sehr
persönlichen Erfahrungsberichten der Protagonisten selbst zeigen die
Ausstellungsmacher auch eigens für die Schau erdachte künstlerische
Auseinandersetzungen mit dem Thema.
Geschichte, Gegenwart, Zukunft – Lebendiger Diskurs im Museum
Damit
beschreitet das Jüdische Museum konzeptionelles Neuland, um einen
Prozess anschaulich zu machen, der sich bislang noch kaum in musealen
Beständen manifestiert. Die für die Ausstellung filmisch dokumentierten
Interviews etwa mit Lothar de Maizière, Wolfgang Schäuble oder Avi
Primor und neu angelegten Sammlungen von Exponaten werden über die
Schau hinaus Zeugnischarakter besitzen und eine wichtige Phase
jüdischer Geschichte in Deutschland für die Zukunft bewahren.
Die in deutscher, russischer und englischer Sprache betextete
Ausstellung gliedert sich in zehn, am Vorgang der Einwanderung eng
angelehnte Themenkomplexe. Diese zeichnen unter anderem Situationen bei
der Ausreise, in den Übergangswohnheimen oder in den deutschen Ämtern
eindringlich nach. Den zentralen Motiven „9. Mai vs. 9. November”, „Was
ist eigentlich jüdisch?” und „Neues deutsches Judentum?” sind besonders
exponierte Ausstellungsbereiche gewidmet.
- Jüdische Matrioschkas. Sammlung Alexander und Sonja Freifeld, Bad Vilbel. Fotos: Ursula Seitz-Gray, Frankfurt am Main
- Flüchtlingswohnheim Viehwasen 22. Stuttgart 1992/93. Foto: Anatoli Uschomirski, Leinfelden-Echterdingen
- Auf dem Amt. München 1992. Foto: Edward Serotta, Berlin
- Jüdische Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges vor der Gedenkstätte Neue Wache. Berlin 2005. Foto: Florian Willnauer, Berlin
- J. W. – Polizist. In Moskau geboren. Foto: Amélie Losier, Berlin
„Migrantisches” und Kultur
Dem Essayband
liegt ebenfalls eine interdisziplinäre Konzeption zu Grunde. Neben
kritischen Analysen, etwa von Dan Diner oder Dieter Graumann stehen zum
Teil kontrovers zu diskutierende Statements von Rabbinern aller
Richtungen oder von Schriftstellern wie Maxim Biller, Lena Gorelik und
Wladimir Kaminer. Auch die in der Ausstellung gezeigten Kunstwerke
werden dort dokumentiert. Viele Beiträge gehen zurück auf die vom
Jüdischen Museum im März 2009 veranstaltete und weithin beachtete
internationale Konferenz „Ausgerechnet Deutschland!”. Der umfangreiche
Katalog mit einer Zeittafel sowie zahlreichen großformatigen
Abbildungen erscheint im renommierten Nicolai-Verlag Berlin. Michail
Gorbatschow und Helmut Kohl haben als bedeutende politische Zeitzeugen
jeweils ein Grußwort beigesteuert.
Ein ambitioniertes Begleitprogramm mit Diskussionen, Vorträgen und Führungen vertieft die Themen der Ausstellung.
„Ich wünsche mir, dass meine Kinder sich in diesem Land zu Hause fühlen
und gleichzeitig ihre russischen und jüdischen Wurzeln bewahren.”
Dieses 2005 geäußerte Anliegen von Julia Giwerzew bedeutet
unausgesprochen, dass sich die Einwanderer und Alteingesessenen ihrer
Prägungen vergewissern müssen, um eine neue, gemeinsame jüdische Kultur
in Deutschland zu entwickeln und Mitgebrachtes benennen zu können. Zu
diesem Prozess will das Jüdische Museum mit der Ausstellung
„Ausgerechnet Deutschland!” einen zentralen Beitrag leisten.