Ausstellung: Ausgerechnet Deutschland! Jüdisch-russische Einwanderung in die Bundesrepublik

by Jüdisches Museum veröffentlicht 11.03.2010

Vom 12. März bis 25. Juli 2010 im Jüdischen Museum:


„Ein deutsches Judentum gibt es nicht mehr, das hat '33 aufgehört zu existieren. Andererseits besteht die Chance durch die Zuwanderung der Juden aus Osteuropa, spezifisch aus Russland, dass ein neues deutsches Judentum entsteht, aber es wird ein anderes sein als das vor '33”, äußert der Historiker Julius H. Schoeps im Zusammenhang mit dem grundlegenden Wandel jüdischen Lebens in Deutschland nach dem Mauerfall.

Von einer nur vorübergehend hier ansässigen hat sie sich zu einer nun definitiv dauerhaft etablierten Gemeinschaft entwickelt.

 

 

Deutsches Judentum zwei

Seit 1989, keine 50 Jahre nach dem Holocaust, entschieden rund eine Viertelmillion postsowjetischer Juden, sich ausgerechnet in Deutschland ein neues Leben aufzubauen. Dem Judentum vielfach entfremdet, erwarteten sich diese Menschen hier bessere Zukunftsperspektiven – zumindest für ihre Kinder. Rund 95.000 dieser Immigranten gehören heute jüdischen Gemeinden an – bei insgesamt etwa 110.000 Mitgliedern. Für die Gemeinden bedeutet die Einwanderungswelle also einen fundamentalen Einschnitt: Eine Minderheit sah sich plötzlich vor der Aufgabe, eine Mehrheit zu integrieren. Dabei prallen prinzipiell sehr unterschiedliche Sichtweisen und Mentalitäten aufeinander.

Der politische Entscheidungsprozess seitens der deutschen Regierung wie auch der Wandel der jüdischen Gemeinschaft vollzog sich weitgehend unbeachtet von der deutschen Öffentlichkeit. So ist es zwanzig Jahre nach Beginn der jüdischen Migration an der Zeit, erstmals anschaulich und publikumswirksam Bilanz zu ziehen: Welche Auswirkungen hat diese beachtliche Einwanderung für Gegenwart und Zukunft des Judentums in Deutschland? Fanden die Migranten Wege in die jüdischen Gemeinden und die deutsche Gesellschaft, und wenn ja – welche? Wie sahen die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen aus? Wie gestaltet sich der Lebensalltag der Einwanderer? Welche Probleme ergeben sich zwischen Alteingesessenen und Zuwanderern? Was ist Judentum in Deutschland heute eigentlich? Diesen und vielen anderen zum Teil kontroversen Fragen widmet sich die Ausstellung „Ausgerechnet Deutschland! Jüdische Einwanderung in die Bundesrepublik”.

Dabei nehmen Kurator Dmitrij Belkin und sein Team die Besucher auf eine anregende Erkundung bis in die Gegenwart mit. Denn der Integrationsprozess und die Neupositionierung der jüdischen Gemeinden, in denen heute überwiegend russisch gesprochen wird, sind noch lange nicht abgeschlossen. Außer der historisch-politischen Dokumentation der Ereignisse und vielen sehr persönlichen Erfahrungsberichten der Protagonisten selbst zeigen die Ausstellungsmacher auch eigens für die Schau erdachte künstlerische Auseinandersetzungen mit dem Thema.

Geschichte, Gegenwart, Zukunft – Lebendiger Diskurs im Museum

Damit beschreitet das Jüdische Museum konzeptionelles Neuland, um einen Prozess anschaulich zu machen, der sich bislang noch kaum in musealen Beständen manifestiert. Die für die Ausstellung filmisch dokumentierten Interviews etwa mit Lothar de Maizière, Wolfgang Schäuble oder Avi Primor und neu angelegten Sammlungen von Exponaten werden über die Schau hinaus Zeugnischarakter besitzen und eine wichtige Phase jüdischer Geschichte in Deutschland für die Zukunft bewahren.

Die in deutscher, russischer und englischer Sprache betextete Ausstellung gliedert sich in zehn, am Vorgang der Einwanderung eng angelehnte Themenkomplexe. Diese zeichnen unter anderem Situationen bei der Ausreise, in den Übergangswohnheimen oder in den deutschen Ämtern eindringlich nach. Den zentralen Motiven „9. Mai vs. 9. November”, „Was ist eigentlich jüdisch?” und „Neues deutsches Judentum?” sind besonders exponierte Ausstellungsbereiche gewidmet.

  • Jüdische Matrioschkas. Sammlung Alexander und Sonja Freifeld, Bad Vilbel. Fotos: Ursula Seitz-Gray, Frankfurt am Main
  •  Flüchtlingswohnheim Viehwasen 22. Stuttgart 1992/93. Foto: Anatoli Uschomirski, Leinfelden-Echterdingen
  •  Auf dem Amt. München 1992. Foto: Edward Serotta, Berlin
  •  Jüdische Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges vor der Gedenkstätte Neue Wache. Berlin 2005. Foto: Florian Willnauer, Berlin
  •  J. W. – Polizist. In Moskau geboren. Foto: Amélie Losier, Berlin
  • Jüdische Matrioschkas. Sammlung Alexander und Sonja Freifeld, Bad Vilbel. Fotos: Ursula Seitz-Gray, Frankfurt am Main
  • Flüchtlingswohnheim Viehwasen 22. Stuttgart 1992/93. Foto: Anatoli Uschomirski, Leinfelden-Echterdingen
  • Auf dem Amt. München 1992. Foto: Edward Serotta, Berlin
  • Jüdische Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges vor der Gedenkstätte Neue Wache. Berlin 2005. Foto: Florian Willnauer, Berlin
  • J. W. – Polizist. In Moskau geboren. Foto: Amélie Losier, Berlin





 

„Migrantisches” und Kultur

Dem Essayband liegt ebenfalls eine interdisziplinäre Konzeption zu Grunde. Neben kritischen Analysen, etwa von Dan Diner oder Dieter Graumann stehen zum Teil kontrovers zu diskutierende Statements von Rabbinern aller Richtungen oder von Schriftstellern wie Maxim Biller, Lena Gorelik und Wladimir Kaminer. Auch die in der Ausstellung gezeigten Kunstwerke werden dort dokumentiert. Viele Beiträge gehen zurück auf die vom Jüdischen Museum im März 2009 veranstaltete und weithin beachtete internationale Konferenz „Ausgerechnet Deutschland!”. Der umfangreiche Katalog mit einer Zeittafel sowie zahlreichen großformatigen Abbildungen erscheint im renommierten Nicolai-Verlag Berlin. Michail Gorbatschow und Helmut Kohl haben als bedeutende politische Zeitzeugen jeweils ein Grußwort beigesteuert.

Ein ambitioniertes Begleitprogramm mit Diskussionen, Vorträgen und Führungen vertieft die Themen der Ausstellung.

„Ich wünsche mir, dass meine Kinder sich in diesem Land zu Hause fühlen und gleichzeitig ihre russischen und jüdischen Wurzeln bewahren.” Dieses 2005 geäußerte Anliegen von Julia Giwerzew bedeutet unausgesprochen, dass sich die Einwanderer und Alteingesessenen ihrer Prägungen vergewissern müssen, um eine neue, gemeinsame jüdische Kultur in Deutschland zu entwickeln und Mitgebrachtes benennen zu können. Zu diesem Prozess will das Jüdische Museum mit der Ausstellung „Ausgerechnet Deutschland!” einen zentralen Beitrag leisten.