Afghanistan: Trotz Covid-19-Pandemie sollen nach acht Monaten Pause Abschiebungen wieder aufgenommen werden

erstellt von Pro Asyl — zuletzt geändert 2020-11-12T17:48:38+01:00
PRO ASYL und Landesflüchtlingsräte fordern Abschiebestopp

Für den kommenden Montag, 16. November, soll  nach dem Willen der Bundesregierung nach mehrmonatiger Pause erneut ein Sammelabschiebungsflug nach Kabul starten – mitten in der zweiten Coronawelle in Deutschland und auch in Afghanistan. Seit dem 11. März 2020 waren in Folge der Corona-Pandemie Abschiebungen auf Bitten der afghanischen Regierung ausgesetzt. Nun droht die Wiederaufnahme. PRO ASYL und die Landesflüchtlingsräte fordern, dass die Abschiebungspläne sofort gestoppt werden. "Die Bundesregierung muss aufhören, die afghanische Regierung unter Druck zu setzen", so Günter Burkhardt, Geschäftsführer von PRO ASYL.

Angesichts der grassierenden Corona-Pandemie halten PRO ASYL und die Landesflüchtlingsräte Abschiebungen nach Afghanistan für unverantwortlich. "Die Bundesregierung legt eine Kaltschnäuzigkeit an den Tag, mitten in der Pandemie Abschiebungen in ein Kriegsgebiet vorzubereiten. Während einer Pandemie darf nicht abgeschoben werden, das ist lebensgefährlich und unverantwortlich", fordert Günter Burkhardt. Bei jeder Abschiebung ist mit einer Gefahr für Leib und Leben der Betroffenen und der Weiterverbreitung des Virus zu rechnen.

Das afghanische Gesundheitsministerium bestätigt derzeit wieder einen Anstieg der Covid-19-Fälle im Land. Expert*innen gehen davon aus, dass eine zweite Welle bevorsteht oder bereits begonnen hat, wie auch das
BAMF am 02. November berichtete. Wie hoch die Infektionszahlen wirklich sind, lässt sich mangels flächendeckender Tests und chaotischer Lage im Land kaum feststellen.  Schätzungen des afghanischen Gesundheitsministeriums zufolge könnte inzwischen bis zu ein Drittel der Bevölkerung infiziert sein.

Die Sicherheitslage im Land ist derweil ungebrochen desaströs. Das Institute for Economics & Peace  hat Afghanistan in seinem
Global Peace Index 2020 das zweite Jahr in Folge als das gefährlichste Land der Welt eingestuft. Weltweit sterben demnach dort die meisten Menschen in Folge kriegerischer Auseinandersetzungen.

Ende Oktober berichtete der
US-Sondergeneralinspektor für den Wiederaufbau Afghanistans, dass die Zahl der Angriffe von Aufständischen zwischen Juli und September 2020 im Vergleich zum Quartal davor um 50 Prozent gestiegen  ist. Die Zahl ziviler Opfer stieg in diesem Zeitraum um 43 Prozent, 876 Menschen wurden getötet und 1.685 verletzt. Der US-Beauftragte berief sich dabei auf Zahlen der NATO-geführten Resolute Support Mission und der US-Streitkräfte am Hindukusch.

Erst Anfang November kamen bei
einem schweren Anschlag der Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) auf die Universität in Kabul mindestens 35 Menschen ums Leben, 22 wurden verletzt. Zuvor griff der IS eine Schule in Kabul an, mehr als 20 Schüler*innen starben.

Die ohnehin schon desaströse wirtschaftliche Situation in Afghanistan verschärft sich durch die Covid-19-Pandemie drastisch: höhere Lebensmittelkosten, erschwerter Zugang zu Arbeit und Wohnraum, steigende Rückkehrer*innenzahlen, insbesondere aus dem vom Corona-Virus schwer betroffenen Iran, mit denen Afghanistan kaum fertig wird. Selbst das Auswärtige Amt bestätigt diese Entwicklung in seinem aktuellen
Asyllagebericht zu Afghanistan.

Hierzulande haben inzwischen
etliche Verwaltungsgerichte in Urteilen bestätigt, dass sich die Lage in Afghanistan aufgrund der Pandemie derart verschlechtert hat, dass auch alleinstehenden jungen Männern ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu erteilen ist (vgl. VG Kassel, VG Karlsruhe, VG Arnsberg, VG Hannover, VG Sigmaringen, Urteil vom 24.06.2020, A 6 K 4893/17, VG Wiesbaden).

Die Regierung Afghanistans steht jedoch unter Druck, Abgeschobene auch in der noch so unzumutbaren Lage zurückzunehmen. Der
Afghanistan-Experte Thomas Ruttig vermutet, dass die Zustimmung Afghanistans zur Wiederaufnahme von Sammelabschiebungen darauf zurückzuführen ist, dass am 23./24. November eine Geberkonferenz stattfinden wird, bei der konkrete Geldzusagen für Afghanistans Entwicklungsfinanzierung für den Zeitraum 2021-2024 verhandelt werden. Schon in der Vergangenheit habe es Anzeichen dafür gegeben, dass von den Geberländern Druck auf die afghanische Regierung ausgeübt wurde, Sammelabschiebungen zuzustimmen. Dies drohe sich nun zu wiederholen. PRO ASYL teilt diese Einschätzung und nimmt zum EU-Deal »Joint Way Forward« Stellung.

Pro Asyl, Presseerklärung, 12. November 2020