7-Punkte-Plan fürs Bahnhofsviertel: Überwachungsdystopie soll in Frankfurt Realität werden
Mitte März stellten Innenminister Roman Poseck (CDU) und Sozialministerin Heike Hofmann (SPD) ihren sogenannten 7-Punkte-Plan für das Bahnhofsviertel vor.
Vorausgegangen war ein FAZ-Artikel von Ministerpräsident Boris Rhein (CDU), in dem er forderte, das Bahnhofsviertel für suchtkranke Menschen “so weit es geht zu schließen”1. Denn es solle endlich aufgeräumt werden im “Zombieland”. So wird von der Politk also wieder einmal versucht, aus ihrer Sicht unerwünschte Personen wie Suchtkranke, Wohnungslose und Dealer*innen aus dem Viertel zu drängen.
Allerdings haben es die vorgesehenen Maßnahmen dieses Mal besonders in sich. Vermengt mit angeblich verbesserten Hilfsangeboten finden sich Vorhaben wie eine weitere Ausweitung von Polizeikontrollen und ein umfassender Ausbau der Videoüberwachung. Dabei soll noch in der ersten Hälfte dieses Jahres erstmalig in Hessen auch KI zum Einsatz kommen, um mittels Gesichtserkennung bestimmte Personen identifizieren und ihren Aufenthaltsort bestimmen zu können. Bei “drohenden erheblichen Gefahren” soll eine sogenannte biometrische Identifikation auch in Echtzeit möglich sein2.
Da die Erfahrung zeigt, wie beliebig solche Rechtsbegriffe ausgelegt werden, ist beispielsweise auch eine Verwendung zur Identifikation bestimmter Personen in Demonstrationen oder auf Versammlungen nicht ausgeschlossen. Auf diese Gefahr wies der Hamburger Datenschutzbeauftragte Thomas Fuchs vergangene Woche explizit hin3. Nach aktuellem Kenntnisstand gleicht die KI die Bilder der Kameras mit den Fotos von eigens dafür angelegten Polizeidatenbanken ab und sucht nach Treffern4. Die zuständigen Polizist*innen können also theoretisch alle Menschen, die beispielsweise einmal einer ED-Behandlung unterzogen wurden, in sekundenschnelle von ihrem Video-Operation-Center an der Gutleutstraße aus indentifizieren und je nach Bedarf Maßnahmen einleiten.
Generell bedeutet dieses Vorhaben aber für alle Personen, die in den Blickwinkel der Kameras geraten, dass neben der pauschalen Analyse der Gesichter auch deren öffentliches Auftreten auf “verdächtiges” Verhalten überprüft wird. Was genau als “verdächtig” einzustufen ist, legt die Polizei bekanntermaßen selber fest. Wie das mit dem Datenschutz und der informationellen Selbstbestimmung im öffentlichen Raum vereinbar sein soll, bleibt höchst fraglich.
Neben dieser dystopischen Massenüberwachung im öffentlichen Raum nimmt außerdem die nachträgliche KI-Auswertung von Videomaterial zu. Die kürzlich auch in Hessen erfolgten Razzien bei beschuldigten Eritrear*innen wegen der Auseinandersetzungen rund um das eritreische Kulturfestival in Gießen 2022 und 2023 zeigen, wie stark die Polizei bereits auf automatisierte Gesichtserkennung bei ihren Ermittlungen setzt5. Wurde dieses Vorgehen im Nachgang an die G20-Proteste in Hamburg noch versucht zu unterbinden, schafft die Polizei mittlerweile weitestgehend ungestört einen neuen Standard6. Nach der stückweisen Ausweitung der Waffenverbotszonen, in denen die Polizei im Bahnhofsviertel und in Alt-Sachsenhausen anlasslose Kontrolle durchführen kann, haben wir nun also den nächsten Meilenstein in Richtung Überwachungsstaat erreicht. Poseck lässt seinem Überwachungswahn freien Lauf und brüstet sich mit der hessischen Vorreiterrolle.
Möglich sind solche Maßnahmen durch einen erstaunlich wenig beachteten Beschluss des hessischen Parlaments aus dem vergangenen Dezember. Hierbei ging es um eine allgemeine Ausweitung polizeilicher Befugnisse. Während Maßnahmen wie das “Unter Strafe Stellen von Verstößen gegen Aufenthaltsverbote” und der Einsatz von Bodycams in Privatwohnungen bereits im Vorfeld vorgesehen waren, fügte die CDU auf den letzten Drücker noch den KI-Einsatz in den Entwurf ein. Obwohl sich die Opposition wegen dieses Vorgehens verärgert zeigte, wurde der Maßnahmenkatalog mit genügend Stimmen der schwarz-roten Regierung angenommen.
Die angekündigten Klagen der Opposition lassen trotz teilweise großspurigen Ankündigungen auf sich warten7. Die hessische Landesregierung scheint es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, mit allen erforderlichen Mitteln die Schlupflöcher der europäischen KI-Verordnung zur biometrischen Massenüberwachung auszuloten. Für die zu erwartende Bundsregierung aus CDU und SPD verheißt dieser Vorstoß auf jeden Fall nichts Gutes. Der 7-Punkte-Plan wird von Oberbürgermeister Mike Josef (SPD) unterstützt8. Kritik bezieht sich, wenn auch gerechtfertigt, ausschließlich auf die Auswirkungen für den “Frankfurter Weg” in der Drogenhilfe9. Dabei wird die Innere Sicherheit erneut zur pauschalen Rechtfetigung schwerster Grundrechtseingriffe herangezogen.
Und auch wenn beim Beschluss des Landtages erstmal nur von einem Test die Rede ist, sollte man sich von solchen Aussagen nicht in die Irre führen lassen. Schon bei der vergangenen Ausweitung der Videoüberwachung im Zuge der Fußball-EM letzten Sommer konnte man sehen, wie die Behörden solche Maßnahmen durch ihre Statistiken im Nachheinein legitimieren und wegen der vermeintlichen Erfolge die nächste Ausweitung fordern. Deshalb kann man sich schon denken, dass die Konstablerwache und die Hauptwache wegen der dort bereits vorhandenen Kameratürme zur nächsten Spielwiese für die biometrische Massenüberwachung werden.
Es ist bedrückend, wie wir von den Behörden mittlerweile ausschließlich als potenzielle Strafttäter*innen und Sicherheitsrisiken wahrgenommen werden. Diese Grundannahme haben wir unter zunehmender Beobachtung durch KI-gesteuerte Systeme zu widerlegen. Die Unschuldsvermutung scheint mittlerweile keine Rolle mehr zu spielen, da Prävention über allem steht. Die KI wird schon wissen wer “verdächtig” ist. Dabei handelt es sich nicht um eine unausweichliche Folge der Digitalisierung, sondern um politisch gewollte Entscheidungen. Technik muss nicht in dieser Form eingesetzt werden, nur weil sie es möglich macht!
Wir rufen daher alle progressiven Kräfte auf, sich mit dieser Problematik auseinanderzusetzen und sich Strategien für einen angemessenen Umgang zu überlegen. Bisher ist dazu kaum Widerstand zu vernehmen. Dabei steht hier die Grundlage für jegliche öffentliche Veranstaltungen und Aktionen auf dem Spiel. Das Potenzial für Repression lässt sich kaum abschätzen. Sollten sich Poseck und Co. mit diesem Vorstoß durchsetzen können, ist damit zu rechnen, dass hiermit deutschlandweit ein neuer Standard gesetzt wird. In so einer Welt wollen wir nicht leben!