50.000 Kinder & Jugendliche in Quarantäne: Wir brauchen einen Strategiewechsel!

erstellt von Familien in der Krise Hessen — zuletzt geändert 2020-10-21T17:46:07+01:00
Offener Brief an BM Jens Spahn und Prof. Wieler, Robert Koch-Institut

Sehr geehrter Herr Bundesminister Spahn, sehr geehrter Herr Prof. Dr. Wieler,

Deutschland braucht einen längst überfälligen Strategiewechsel hinsichtlich der Maßnahmen für Kinder und Jugendliche bei der Eindämmung des Coronavirus. Deswegen fordern wir bundesweit einheitliche, transparente und schlüssige Vorgaben, wenn es darum geht, Minderjährige als Kontaktpersonen der Kategorie I einzustufen und eine Quarantäne für sie anzuordnen.

Im Anhang senden wir Ihnen eine Stellungnahme zu diesem Thema, die wir als Initiative Familien in der Krise mit Unterstützung der Initiativen Kinder brauchen Kinder und Mütterinitiative für Alleinerziehende (MIA) verfasst haben und mit der wir auf die Missstände im IfSG bezüglich der Kinder und ihrer Familien aufmerksam machen und Lösungsvorschläge aufzeigen möchten.

Schulen und Kitas sind mittlerweile in allen Bundesländern seit mehreren Wochen wieder im Regelbetrieb (unter Pandemiebedingungen) geöffnet, ohne dass es dort zu nennenswerten Covid-19-Ausbrüchen gekommen wäre. Es zeigt sich in der Praxis immer mehr, dass weder Schulen noch Kitas Hotspots oder Superspreading-Events sind. Auch die wissenschaftliche Studienlage stellt sich mehrheitlich so dar, dass sich jüngere Kinder seltener mit dem Virus anstecken als Erwachsene, mildere Krankheitsverläufe haben und das Virus auch seltener an andere weitergeben.

Dennoch waren Medienberichten zufolge Ende September mehr als 50.000 Kinder in Quarantäne.

Nur ein Bruchteil dieser Kinder wurde tatsächlich Corona positiv getestet. Die überwiegende Mehrzahl wurde als Kontaktperson der Kategorie I in Quarantäne geschickt. Rechnet man die für Bayern vorliegenden Zahlen (9.000 Schüler unter Quarantäne davon nur 3,8% positiv getestet) auf Bundesebene hoch, befanden sich im Umkehrschluss rund 48.100 gesunde Kinder in Quarantäne.

Insbesondere für kleine Kinder und deren Familien stellt eine 14-tägige Quarantäne eine extreme Belastung dar. Verschiedene Studien und Fachveröffentlichungen, die das Kompetenznetz Public Health COVID-19 ausgewertet hat, zeigen, welche enormen Auswirkungen eine Quarantäne auf die psychosoziale Gesundheit hat: dazu zählen u.a. Stress, Wut und Depressivität.

Die Einordnung von Kindern als Kontaktperson der Kategorie I sollte daher äußerst vorsichtig vorgenommen werden. In der Praxis passiert jedoch oft das genaue Gegenteil: die Gesundheitsämter stützen sich meist ausschließlich auf die Empfehlung des RKI und schicken die gesamte Klasse oder Kita-Gruppe in Quarantäne. Hinzu kommt, dass eine detaillierte Kontaktpersonen-Nachverfolgung personalintensiv ist und bislang nur wenige Gesundheitsämter, wie z.B. Frankfurt am Main, die Personalstärke haben, die Kontaktpersonen-Nachverfolgung so detailliert durchzuführen, dass nur direkte Kontakte, wie z.B. Banknachbarn identifiziert und in Quarantäne geschickt werden. Eine mangelnde personelle Ausstattung der Gesundheitsämter darf hier nicht dazu führen, dass ein so massiver Eingriff in die Grundrechte der Kinder und Jugendlichen ohne sorgfältige Abwägung geschieht.

Zusätzlich zu den psychosozialen Problemen einer Quarantäne kommen für die Erziehungsberechtigten noch finanzielle Sorgen hinzu; denn die Frage, ob im Falle einer Quarantäne eines gesunden Kindes eine Entschädigung gemäß §56 Abs.1a IfSG zu zahlen ist, wird aufgrund der unklaren Rechtslage von Gesundheitsämtern und den zur Auszahlung der Leistung beauftragten Stellen bundesweit unterschiedlich beantwortet: somit kommt es für den Erhalt der Entschädigungszahlung derzeit auf den Wohnort an.

Das Bundesministerium hat diese Frage nach dem Anspruch auf Entschädigung bislang offen gelassen. Diesen Zustand halten wir für schlichtweg nicht akzeptabel. Wenn in Deutschland mittlerweile zehntausende gesunde Kinder in Quarantäne sind, wissen im Zweifel ebenso viele Eltern nicht, ob und in welchem Umfang sie eine Entgeltfortzahlung oder ein Entschädigungsanspruch erhalten, wenn sie nicht arbeiten können, weil sie das in Quarantäne befindliche Kind und etwaige Geschwisterkinder betreuen müssen. Vor allem Alleinerziehende stellt dies vor ein immenses Problem.

Darüber hinaus möchten wir auf zwei besonders unerfreuliche Aspekte der üblichen Quarantäne- Schreiben aufmerksam machen: Zum einen die Androhung der Herausnahme des Kindes aus der Familie bei Nichteinhaltung der Quarantäneregeln, zum anderen die Empfehlung, Kinder von ihren Eltern und Geschwistern im eigenen Haushalt räumlich und zeitlich zu isolieren. Diese Vorgaben sind zurückzuführen auf eine undifferenzierte Betrachtung von Erwachsenen und Kindern im IfSG. Die daraus resultierende Forderung nach einer Isolation von Kindern innerhalb der eigenen häuslichen Gemeinschaft greift auf erhebliche Weise in die Schutzrechte von Kindern ein und widerspricht Art. 3 der UN-Kinderrechtskonvention. Laut Gutachten der BAG Landesjugendämter muss der Staat dem Schutz der Familie auch bei Schutzmaßnahmen nach dem IfSG hinreichend Rechnung tragen.

Wir möchten Sie, Herr Bundesminister Spahn und Herr Prof. Dr. Wieler, mit unserer Stellungnahme daher dringend bitten, die entsprechenden Teile des IfSG sowie die Empfehlungen des RKI an die besonderen Bedürfnisse von Kindern und Familien anzupassen. Wirken Sie bitte in den gemeinsamen Konferenzen zwischen Bund und Ländern darauf hin, dass die Gesundheitsminister der Länder den ihnen unterstellten Gesundheitsämtern entsprechende Anweisungen erteilen.

Bitte führen Sie den dringend notwendigen Strategiewechsel in Bezug auf die Quarantäne-Maßnahmen, auf die Entschädigungsleistungen und auf die Teststrategie für Kinder und Jugendliche durch, so wie ihn einige unserer Nachbarländer, darunter die Schweiz und die Niederlande, bereits praktizieren und der von vielen führenden Medizinern und Virologen empfohlen wird! Familien benötigen jetzt mehr denn je eine realistische und alltagstaugliche Hilfestellung, die es ihnen ermöglicht, verantwortungsvoll mit der sehr belastenden Situation einer Quarantäne umzugehen. Wenn die einzelnen Maßnahmen zum Infektionsschutz die Existenz und Gesundheit der Familien mehr gefährden als eine eventuelle Erkrankung, leidet die Akzeptanz in der Bevölkerung massiv und somit auch die Einsicht in die Wichtigkeit von Schutzmaßnahmen gegen die Corona Pandemie.

Diese Themen würden wir sehr gerne mit Ihnen in einem persönlichen Gespräch diskutieren. Wir freuen uns über eine Rückmeldung und verbleiben mit freundlichen Grüßen,

Nora von Obstfelder, Diane Siegloch, Dr. Tobias Oelbaum für Familien in der Krise
Carola Schneider, Sabine Kohwagner für Kinder brauchen Kinder info@kinderbrauchenkinder-petition.de

Familien in der Krise Hessen, Pressemitteilung, 20. Oktober 2020

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