"Theorie der Halbbildung"
Die Sozialistische Studienvereinigung befasste sich mit dem Aufsatz von Theodor Adorno "Theorie der Halbbildung"
Die Sozialistische Studienvereinigung beschäftigte sich einen Lesenachmittag lang mit dem Aufsatz von Theodor W. Adorno (1959): "Theorie der Halbbildung". Wegen der Schwierigkeiten des Textes schafften die 10 Teilnehmer/innen am Samstag, dem 20.5. zunächst nur den Vorlauf, eine Darstellung der Geschichte der Bildung selbst, d.h. im wesentlichen ihres Ideals in der bürgerlichen Gesellschaft, sowie ihres Zerfalls. Erst damit wird eine Bestimmung von "Halbbildung" möglich, deren genauere Betrachtung durch die Kritische Theorie Adornos in einem weiteren Lektürenachmittag im September entlang der zweiten Hälfte des Textes stattfinden wird .
Die Methode
Durch das abschnittsweise Lesen und Diskutieren gelang den zumeist ganz unvorbereiteten Teilnehmer/innen ein Zugang zur Methode und Darstellungsweise Adornos. Die Veranstaltung wurde tutorenmäßig angeleitet, um sowohl unmittelbare Verständnisfragen wie darüber hinaus Anliegen und Problematik der "Kritischen Theorie" selbst zu klären. Diese Vorgehensweise konnte fürs erste die Zeitbedingtheit dieser Art linker Theoriebildung erhellen:
1922-24 war das "Institut für Sozialforschung" in Frankfurt am Main gegründet worden mit dem Ziel, herauszufinden, "was die wahre Marxsche Lehre sei". ... Die verschiedenen Begründer eines "Westlichen Marxismus" planten, dass das unabhängige Institut "vor allem die Geschichte und Theorie der Arbeiterbewegung, die Wechselwirkung zwischen den wirtschaftlichen und kulturellen Lebensbereichen der Gesellschaft sowie die Entwicklungstendenzen der modernen Gesellschaft selbst untersuchen sollte".
Diesem ursprünglichen Anliegen gilt auch noch der Adorno-Text von 1959: Bildung als Erbschaft der bürgerlichen Emanzipation (Revolution) im idealistischen Sinne der Herausbildung des selbstbestimmten gesellschaftlichen Individuums wird an ihrem realen Gebrauchswert unter der Herrschaft der kapitalistischen Ökonomie, "der universalen Herrschaft des Tauschwerts", der Ware, der "Kulturindustrie" gemessen und ernüchternd geprüft, was die Proletarisierten je mit diesem Erbe anfangen konnten - als von vornherein Enterbte. Unsere Bildungsanstrengungen haben sich keineswegs linear aufstrebend von immer mehr "Wissen" zu immer mehr "Macht" entwickelt, sondern - wie Adorno desillusionierend schon damals zeigt -: sie sind bloß "zu sozialisierter Halbbildung geworden, der Allgegenwart des entfremdeten Geistes". Indem Adorno den sehr deutschen Begriff "Bildung" mit dem jüdisch-europäischen Begriff "Geist" (hebr.: ruach, griech.: pneuma) in seiner inneren und historischen Widersprüchlichkeit entwickelt, setzt er an Hegels Methode ("Phänomenologie des Geistes" 1805) an und versucht diese in eine "negative Dialektik" umschlagen zu lassen: gibt es keinen idealistisch-vernünftigen objektiven "Weltgeist" in der Geschichte mehr, so muss wohl Historischer Materialismus alles "Positive" der bestehenden kapitalistischen Verhältnisse konsequent in ihre Negation bringen, theoretisch und praktisch alle festen Positionen als Illusionen aufzeigen. Deshalb gibt Adorno auch keinerlei feste Definitionen vor, an die "man sich halten kann". Die Leser/innen sind also immer zunächst "die Dummen", können aber gerade deshalb lernen, wenn sie sich auf ihre Irritationen und Desillusionierung einlassen. ...
Linke Theoriebildung
Adornos Beitrag zur revolutionären Theoriebildung ist ebenso zwiespältig wie wirkungsmächtig geblieben: Während z.B. der akademische US-"Marxist" Fredric Jameson (in:"Spätmarxismus"1990) Adorno für den letzten Großtheoretiker des dialektischen Marxismus hält, hat schon der Frankfurter Revolutionär Hans Jürgen Krahl klar "diesen objektiven Widerspruch in der Theorie Adornos" gezeigt: "... Doch dasselbe theoretische Instrumentarium, vermittels dessen Adorno diese gesamtgesellschaftliche Erkenntnis zu realisieren vermochte, verstellte ihm auch den Blick auf die historischen Möglichkeiten einer befreienden Praxis. (...) Adornos Negation der spätkapitalistischen Gesellschaft ist abstrakt geblieben und hat sich der Erfordernis der Bestimmtheit der bestimmten Negation verschlossen, jener dialektischen Kategorie also, der er sich aus der Tradition Hegels und Marxens verpflichtet wusste. Der Praxisbegriff des Historischen Materialismus wird in ... der Negativen Dialektik nicht mehr auf den sozialen Wandel seiner geschichtlichen Formbestimmungen hin befragt, der bürgerlichen Verkehrs- und proletarischen Organisationsformen. In seiner kritischen Theorie spiegelt sich das Absterben der Klassenkämpfe als Verkümmerung der materialistischen Geschichtsauffassung." (FR 13.8.69)
Abschied vom Proletariat?
Mit dem "Absterben der Klassenkämpfe" ist die niederschmetternde Tatsache des 20.Jahrhunderts gemeint, dass die proletarische Revolution in Europa, im Westen, vor allem in Deutschland von der Konterrevolution gestoppt und abgelöst, vom "consumer capitalism" nach dem 2.Weltkrieg vergewaltigt und bis heute nicht wieder auf die Füße gekommen ist. Adornos ganzer oder halber "Abschied vom Proletariat" beruht vor allem auf der Enttäuschung und auf dem nie überwindbaren Schock, dass das Proletariat in Deutschland Auschwitz... zugelassen hat. Die überscharfen Einwände der Kritischen Theorie gegen linken frisch-fröhlichen Geschichtsoptimismus gilt es also ernst zu nehmen. Zu der "Masse Bildungselemente", von denen das Kommunistische Manifest bereits feststellt, dass sie dem Proletariat "durch den Fortschritt der Industrie" selbst zugeführt werden (MEW 4,S.471) - und sei es die Kulturindustrie -, gehört längst auch die "Kritische Theorie" selber, und wir sollten schauen, wie wir sie für unsere Zwecke verwenden können ...
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